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Code Red – Zurück im Laufhaus

    Autorin: Sophie //

    Bevor ich anfange möchte ich betonen, dass das Netzwerk Ella eine
    UNABHÄNGIGE Interessensvertretung von Frauen aus der Prostitution ist.
    Wenn ein Mitglied eine bestimmte religiöse oder politische
    Weltanschauung hat, sagt das nichts über das Netzwerk Ella aus, weil
    sich die Ansichten der Mitfrauen durchaus unterscheiden und von
    Aktionen des Netzwerks Ella unabhängig sind.



    Wie letztes Jahr im Juni fand auch dieses Jahr wieder der „Code Red“
    statt, eine Veranstaltung einer internationalen Gemeinde aus den USA,
    die sich zum Ziel gesetzt hat, sowohl die Rehabilitation von Süchtigen
    und Obdachlosen, als auch praktische Ausstiegshilfe für Prostituierte
    zu leisten .


    Ich habe vor allem Interesse an der praktischen Ausstiegshilfe für
    Prostituierte und nehme deshalb an Veranstaltungen teil, die sich
    damit beschäftigen. Um Kritik vorwegzunehmen, muss ich erklären, dass
    diese Gemeinde nicht darauf abzielt, die Prostitution der christlichen
    Moral wegen zu verurteilen und zu verbieten. Viele Frauen der Gemeinde
    waren in der Vergangenheit selbst Prostituierte und zudem oft auch
    drogenabhängig. Da die einzige Institution, von der sie Hilfe bekamen,
    die Kirche war, die ihnen in einer Zeit der vollkommenen
    Zerbrochenheit von Jesu bedingungsloser Liebe erzählt hat und das ,
    sowie der Halt, den das Kollektiv bot, dann auch das einzige waren,
    das ihnen aus ihrer miserablen Situation herausgeholfen und ein neues
    Leben ermöglicht hat, möchten diese Frauen diese Liebe auch
    weitergeben. Weil die meisten dieser Frauen sexuelle Gewalt und
    wirtschaftliche Nöte nur allzu gut kennen, fühlen sie mit den
    Prostituierten Frauen mit. Sie wissen um ihre Lage, um die
    Alternativlosigkeit und um den Verlust jeglichen Selbstwertgefühls.

    Aus diesem Grund findet jährlich auf der ganzen Welt der „Code Red“
    statt, bei dem alle prostituierten Frauen zu gratis Kosmetik,
    Massagen, Maniküre, Frisieren etc. eingeladen werden. Bei diesem Event
    geht es darum, dass die prostituierten Frauen sich für einen Tag
    geliebt und wertgeschätzt fühlen und nebenbei davon erfahren können,
    dass die Kirche ihnen eine Ausstiegshilfe bieten kann. Gleichzeitig
    erzählen einige Frauen von ihren Erfahrungen in der Prostitution, von
    den Süchten, denen sie erlagen und wie sie den Weg heraus geschafft
    haben. Die Testimonials sind insgesamt ermutigend und sollen den
    Frauen Hoffnung spenden.


    Ich weiß, dass Evangelikale oder insgesamt Gläubige von Feministinnen
    zwecks Pro-Life-Aktivisten und oft patriarchaler Strukturen als
    Antifeministisch wahrgenommen werden. Jedoch wage ich zu behaupten, so
    etwas in dieser Gemeinde noch nicht wahrgenommen zu haben. Viel mehr
    besteht ein wertschätzender Umgang mit allen, egal wie sehr sich deren
    Lebensmodell von der Bibel unterscheidet. Von mir wissen alle, dass
    ich Feministin bin, von einem guten Freund weiß man, dass er
    homosexuell ist, und dennoch sind wir akzeptiert. Man muss diesen
    Glauben nicht teilen, aber ich finde solch ehrenamtliches Engagement
    einfach rührend und möchte gern daran teilhaben. Ich war nämlich
    selbst mehrmals für ein paar Wochen im Laufhaus und hätte damals
    vielleicht gern tröstende Worte von Menschen gehört, die meine
    Situation kennen, statt an totaler Vereinsamung zu leiden, weil Freier
    und Zuhälter meine einzigen sozialen Kontakte waren. Für mich gilt der
    Leitsatz: „Sei der Mensch, den du früher gebraucht hättest.“

    Außerdem arbeiten in den Laufhäusern, in denen wir waren, zu 90%
    Rumäninnen, Bulgarinnen und Lateinamerikanerinnen, von denen, wie sich
    herausstellte, fast alle gläubig sind und somit sofort „common ground“
    geschaffen war.


    Eigentlich schreibe ich diesen Text hier aber nicht des christlichen
    Engagements wegen, sondern um über die Erlebnisse zu berichten, die
    ich in der ersten Juniwoche hatte. Es geht mir darum, öffentlich zu
    machen, was ich in den Laufhäusern des Frankfurter Bahnhofsviertels
    gesehen habe und wie es mir dabei ging.

    Wie gesagt, war ich im Alter von 19 und 20 Jahren selbst ein paar Mal
    für ein paar Wochen oder Wochenenden dort und obwohl ich nicht
    dauerhaft blieb, hat mich die Zeit dort sehr geprägt. Die Geschichte,
    wie ich in eines der Frankfurter Laufhäuser kam, möchte ich hier
    erzählen…

    Als ich an einem sommerlichen Tag im Frühjahr 2014 in den
    Taunusanlagen Gassi ging, lernte ich eine Frau kennen, die ich
    ansprach, weil sie einen Hund derselben Rasse wie meinem hatte. Zum
    damaligen Zeitpunkt arbeitete ich gerade in einer der Animierbars,
    weil ich mich nicht mehr prostituieren wollte. Mein Chef gab mir das
    Geld für die ersten zwei Monatsmieten für ein WG-Zimmer direkt im
    Bahnhofsviertel, aber als diese vorbei waren, vergaß ich, die nächste
    Miete pünktlich zu zahlen und so wurde am selben Tag noch mein Schloss
    ausgetauscht und das Zimmer war weg. Um der Obdachlosigkeit zu
    entgehen, nahm ich das Angebot von Melania (Name anonymisiert) an, mir
    ein „gutes“ Zimmer im einzigen Laufhaus, bei dem die unterste
    Preisgrenze 30€ statt 25€ betrug, zu organisieren. Sie stellte mir
    ihren Freund vor, einen „Wirtschafter“ (so nennt man die, die im
    Laufhaus im Büro sitzen und für die „Sicherheit“ der Frauen sorgen und
    die Tagesmiete eintreiben) von den Hell’s Angels, der mir die
    Formalitäten erklärte. „Wirtschafter schreibe ich deshalb in
    Anführungszeichen, weil meiner Meinung nach Profiteure der
    Prostitution anderer Zuhälter sind, aber weil das unser deutscher
    Staat nicht so sieht, wahre ich den offiziellen Begriff.

    Immer wieder nahm sie mich mit zu ihm, vermittelte mir das Gefühl, ab
    jetzt „dazuzugehören“ und sicher zu sein. Wir tranken zusammen,
    lachten zusammen und sie erklärte mir, wie man Freier „rippt“ oder
    mehr Geld für weniger Service bekommt und solche Sachen.

    Einiges verband uns, wir teilten die Erfahrungen sexueller Gewalt in
    der Kindheit und kamen beide aus dysfunktionalen Familien. Ich fühlte
    mich verstanden und das Eintauchen in die „Unterwelt“ faszinierte
    mich. Die Einsamkeit in der ich lebte, weil Menschen mich immer nur
    wegen meinem Geld oder meinem Körper benutzten, ließ mich auf eine
    tiefe Freundschaft mit Melania hoffen.

    Nach wenigen Tagen kam jedoch das böse Erwachen, als sie plötzlich zu
    den 140€ Tagesmiete, die ich an das Laufhaus abzuführen hatte, noch
    50€ für sich verlangte. Für den „Schutz“ und dass sie mir gewisse
    Techniken, mehr Geld zu verdienen beibrachte. Das verweigerte ich und
    ich ahnte, dass sie es dabei nicht belassen würde. Am nächsten Tag
    rief sie mich über das Haustelefon zu sich ins Zimmer, weil sie einen
    Freier für mich hatte. Er vollzog den Sex an mir und Melania schob das
    Geld in ihre Schublade. Sie hatte einen Preis ausgemacht, der mir
    selbst viel zu niedrig gewesen wäre und rückte das Geld später auch
    nicht raus. Kurze Zeit später ließ sie mich von ihrem Freund
    rauswerfen, weil ich weiterhin verweigerte, ihr das Geld zu geben und
    den Kontakt nach dieser Aktion auch unterbrach. Der offizielle Grund
    war, dass ich einem anderen Mädchen im Haus Koks angeboten habe, aber
    eigentlich ging es darum, dass ich nicht bereit war, für sie
    mitanzuschaffen.

    Denn Koks nahm sie auch selbst und das war bekannt. Auch einige andere
    Frauen koksten, aber ich lernte nur wenige kennen. Zum einen konnten
    die meisten der Frauen kein Deutsch, zum anderen bewegte ich mich nur
    mit Tunnelblick und Scheuklappen durch das Haus. Zwar hat mich die
    Atmosphäre dort fasziniert, weil es so anders war wie beim Escort oder
    den Internettermine mit Pädophilen, die meinen Einstieg in die
    Prostitution bedeuteten. Jedoch war das Arbeitspensum so viel heftiger
    als je zuvor und ich befand mich permanent in heftigster Dissoziation.
    In meiner ersten Nacht arbeitete ich von 19-4 Uhr und verdiente dabei
    2000€, das brachte mich dazu zu glauben, dass die Laufhausprostitution
    sogar rentabler als der Escort sei, was ein Trugschluss war. Wenn man
    bedenkt, dass der Standardpreis für 20 Minuten Sex und Oralverkehr bei
    30€ lag und die Tagesmiete 140€ betrug, kann man sich ausrechnen, wie
    oft man für das Haus Sex hatte, bevor man zu seinem „täglich Brot“
    kam. Frauen mit guten Deutschkenntnissen können da tricksen und durch
    unehrliche Methoden dafür sorgen, dass entweder mehr Geld oder weniger
    Sex dabei rumkommt, aber diese Möglichkeit blieb den Frauen, die kein
    Deutsch konnten, leider nicht. Gleichzeitig hieß es aber auch, mehr
    männlicher Aggression ausgesetzt zu sein, wenn man „rippte“ und
    Beschiss. Wie oft wurde ich vergewaltigt, trug blaue Flecken davon,
    nur weil ich 5 Minuten zu früh gesagt habe, dass nachgezahlt werden
    müsse. Oder wie oft hat man mich zu Praktiken gezwungen, die so nicht
    abgemacht waren. Wie oft haben Freier mir ihren Penis so brutal
    reingerammt, dass das Kondom riss und wie oft hatte ich ab gewissen
    Zeitpunkten einfach stundenlange Blackouts, weil ich das was in der
    Zeit passierte, einfach nicht verkraftete. Zum „Glück“ hatte ich einen
    Freier, den ich vom Heroinkauf auf der Straße kannte, der mir dafür,
    dass er sich bei mir vor der Polizei verstecken durfte, regelmäßig
    genug Heroin gab, um all das Elend auszuhalten. So war es ein bisschen
    leichter zu ertragen.


    Jedoch waren nicht nur die Freier und meine Kollegin feindselig und
    ausbeuterisch. Auch der Rest des Viertels bereicherte sich an uns
    prostituierten Frauen. Mehrmals am Tag kamen Männer, die Zigaretten,
    Kaugummis, Energy Drinks, Süßigkeiten, Essen, Kleidung, Dessous,
    Cremes und Make Up und geklaute Waren verkauften, die uns natürlich
    viel teurer angeboten wurden, als wenn wir sie selbst außer Haus
    besorgt hätten. Aber die meisten Frauen lebten im Haus und gingen auch
    nicht gerne raus.

    Da man in der Prostitution völlig den Bezug zu Geld verliert, ist es
    einem auch völlig egal, ob die Waren teurer sind oder nicht.
    Hauptsache man muss nicht raus, um dort von potentiellen Freiern dann
    „privat“ angequatscht, oder von den „Normalen“ der Straße als Hure
    identifiziert zu werden. Das ist unangenehm. Vor allem ist die
    Konfrontation mit der Realität unangenehm, außer man geht shoppen. Die
    Realität könnte die Dissoziation auflösen, shoppen befördert einen in
    einen anderen, angenehmeren Trancezustand und man hat das Gefühl, all
    die Qual würde sich lohnen. Shopping war mir unglaublich wichtig, es
    war mir wichtig, mir selbst zu beweisen, dass ich es zu etwas gebracht
    habe. Dass ich trotz Drogensucht besser aussah und mir teurere Sachen
    leisten konnte, als die meisten Menschen aus der Mittelschicht. Es war
    mir wichtig, wenigstens an Sachwerten meinen Selbstwert messen zu
    können. Wenn ich schon kein Recht auf Schutz und körperliche
    Unversehrtheit besaß, wenn meine Würde schon so antastbar war, dass
    sie keinen interessierte, weder den Staat, noch irgendeinen Freier,
    der meinen Körper behandelte, als wäre er längst tot und auspresste,
    was nur irgendwie möglich war, dann wollte ich mir wenigstens ein paar
    Gegenstände kaufen, die wertvoll waren. All die Euros, die ich in den
    Einkaufsstraßen und -centern ließ, gaben mir das Gefühl, etwas ganz
    besonderes zu sein. Bei jedem Augenzwinkern oder Kompliment, das mir
    jemand machte, dachte ich, dass dieser Mensch gerade nicht den
    Schmutz, den Ekel und die Hure in mir sah, sondern schlicht und
    einfach nur fand, dass ich gut aussah. Das Geld war ein Trost. Balsam
    für meine geschundene Seele. Zwar war ich allein, aber das Geld gab
    mir Wärme. Es ließ mich mich anderen überlegen fühlen, von denen ich
    sonst das Gefühl hatte, dass sie auf mich herabblickten. Am Anfang
    brachte mich zwar mein Trauma dazu mich zu prostituieren, aber
    irgendwann war das Geld auch einfach identitätsstiftend für mich. Auch
    wenn es Zeiten gab, in denen ich nicht viel von meinem Geld hatte,
    weil ich den ein oder anderen Exfreund mitunterhielt oder meinen
    Freunden Geschenke machte, weil ich mich so wertlos fühlte, dass ich
    dachte, für Zuneigung bezahlen zu müssen.


    Von meinen eigenen Erfahrungen im Laufhaus komme ich jetzt zu meinen
    Begegnungen der ersten Juniwoche. Schon Montag und Dienstag ging ich
    mit, um Flyer an die Frauen zu verteilen und ihnen von dem
    Gratis-Wellness-Event zu erzählen. Die Gemeinde geht auch sonst
    mehrmals im Monat im Viertel umher, um sowohl mit den Drogensüchtigen,
    als auch mit den Prostituierten zu sprechen und Hilfe anzubieten, also
    kannte man uns schon.

    So kam es dazu, dass ich mit der Tochter der Pastorin zuallererst das
    Laufhaus betrat, in dem ich selbst auch gearbeitet habe. Der
    „Wirtschafter“ im Büro, den es auch damals vor 4-5 Jahren schon gab,
    erkannte mich nicht, obwohl ich mit ihm sprach. Die Frauen waren eher
    verschlossen, ein paar kannte ich noch von damals, sie mich aber nicht
    mehr und ich unterließ auch, sie daran zu erinnern. Die meisten
    wirkten irgendwie weggetreten. Sie lächelten müde und eingefroren,
    ihre Gesichter glichen Masken. Als ich durch die Gänge lief, fühlte
    ich mich, als klebten Bleisäcke an mir, so schwer und drückend war die
    Atmosphäre. Teilweise sah ich in die Türen und auf die Betten und sah
    da mich selbst, völlig dissoziiert. Heute denke ich, sobald man als
    Prostituierte einen Puff betritt, tauscht man seine Persönlichkeit
    ein. Man ist dann jemand anders, eine Hülle, ein Roboter, man
    funktioniert auf Autopilot. Die Fassade ist immer anders, so dass sie
    halbwegs authentisch wirkt, aber letztenendes ist alles irgendwie
    unecht und man ist von sich selbst total entfremdet.

    All diese Gefühle, die ich damals überhaupt nicht in der Lage war zu
    empfinden, kamen mir auf einen Schlag entgegen.

    Mich hat das so traurig gemacht, Frauen wie mich in diesem Zustand zu
    sehen. Am schlimmsten war für mich ein Zimmer, in dem eine Frau lag,
    die aussah wie 14 und mit halb offener Tür regungslos mit halboffenen
    Augen auf dem Bett lag. Als wir sie ansprachen, winkte sie ab. Nach
    Drogen sah sie eher nicht aus, wobei man das nicht wissen kann, denn
    das tat ich damals auch nicht, aber ich vermute, dass sie entweder
    völlig in ihrer Dissoziation gefangen war, oder dass sie einen
    Zuhälter hat, der bewacht, ob sie ihre Türe auch immer offen hat, wenn
    sie gerade keinen Freier bedient, und deshalb in einer Situtation, in
    der sie eigentlich nicht arbeiten konnte, trotzdem die Tür offen ließ.
    So am Rande habe ich sowas auch damals, als ich selbst dort gearbeitet
    habe, mitbekommen, aber wenn man selbst im Milieu ist, hebt man die
    Werte „nichts hören, nichts sehen, nichts sagen“ sehr hoch. Die junge
    Frau hat mich mit ihrem Anblick total erschreckt. Zum einen, weil ihr
    Körper aussah, wie der einer 14-Jährigen und zum anderen, weil sie
    dermaßen eindeutig und offensichtlich NICHT selbstbestimmt und frei
    und glücklich war, dass ich mich wieder einmal frug, in was für einem
    Land ich eigentlich lebe.

    Wie kann es sein, dass nur 10m vom Eingang dieses Hauses das Büro von
    Dona Carmen ist, welche da regelmäßig durch die Häuser patroullieren
    und mit den Frauen spricht und dieser Verein trotz Begegnungen wie
    diesen Menschenhandel, Zwangsprostitution und Armutsprostitution
    verharmlosen und Prostitution als das Ausleben selbstbestimmter
    Sexualität sehen? Wie ignorant kann man sein, dass man als Frau, die
    noch nicht einmal selbst von der Prostitution betroffen ist, aber
    dennoch regelmäßig solche Anblicke ertragen muss, das System
    Prostitution verteidigt und fördert, dass Frauen darin einsteigen? Und
    vor allem hat mich erschüttert, dass die Politik nichts tut. Gerne
    würde ich eine Politikerin auf diese Aktionen mal mitnehmen, damit
    diese sich ein Bild machen kann und endlich mal etwas bewegt im
    Bundestag.

    Dasselbe Mädchen haben wir am Freitag wiedergesehen, diesmal zwar
    wach, aber wütend und sehr abwehrend. Sie sagte, dass sie nur mit
    Kunden spreche, was auch wieder ganz typisch für Zwangsprostituierte
    ist, weil deren Zuhälter ihnen jegliche Gespräche mit Menschen, die
    sich für ihr Wohl interessieren, verbieten. Zum Einen muss die soziale
    Isolation ja aufrechterhalten werden, zum Anderen darf keiner merken,
    dass die Frau nicht freiwillig im Laufhaus ist.


    Was mich als ich dann auch noch in den anderen Häusern war sehr
    erschreckt hat, war dass die Häuser wohl nach Ethnien sortiert sind.
    Manche sind halbwegs durchmischt, aber es gab zum Beispiel ein Haus,
    in dem nur Lateinamerikanerinnen bis zu einem bestimmten alter waren.
    Ein anderes war auch voll von Lateinamerikanerinnen, aber die meisten
    waren schon etwas älter. Einige Häuser waren nur mit Rumäninnen oder
    Bulgarinnen besetzt und in einem Haus waren zwei Stockwerke
    thailändisch. Bilde ich mir das ein oder ist das nicht etwa total
    rassistisch? Dem Kunden die Häuser nach „Rasse“ anzubieten und die
    Frauen dementsprechend einzuordnen, halte ich für absolut
    menschenverachtend. Unser Bildungswesen beinhaltet so viel
    antirassistische Erziehung und in jeder Firma können rassistische
    Kommentare zu einer sofortigen Entlassung führen, aber in der
    Prostitution ist es vollkommen in Ordnung, dass spezielle Attribute
    und spezieller Service einer Frau einer bestimmten Ethnie zugeordnet
    werden. So gilt für die Thai-Frauen, dass sie Massagen anbieten, die
    Latinas angeblich Analsex. Die Thaifrauen seien so klein und süß und
    zierlich, die Latinas hätten so runde Hintern und seien
    temperamentvoll. Dass so etwas unglaublich rassistisches in einem „Job
    wie jedem anderen“ (Ironie off) erlaubt ist, macht mich einfach nur
    sprachlos. Ein Freier kann sich eine Frau im Puff nach rassischen
    Kriterien aussuchen, während derselbe eine Anzeige bekäme, wenn er
    sich seine Putzfrau danach aussuchen würde. Angeblich sind beide
    Dienstleisterinnen, warum also ist im Puff erlaubt, was eine Frau
    außerhalb der Sexindustrie extremst diskriminiert? In den drei Tagen,
    in denen ich die Treppen auf- und ablief, habe ich keine einzige
    „Biodeutsche“ getroffen. Die meisten waren Migrantinnen und in jedem
    Gespräch, das wir führten, wurde mindestens einmal erwähnt, dass die
    ökonomische Situation die Frau dazu zwingt, sich zu prostituieren.
    Allein das zeigt doch, dass da etwas nicht stimmt. Das zeigt doch,
    dass Frauen eine Alternative ergreifen, sofern sie eine haben.
    Deutsche Frauen verfügen nämlich von ihrer Kindheit an über die
    notwendigen Sprachkenntnisse, die der Arbeitsmarkt erfordert und haben
    auch eher ein bestehendes soziales Netz, das sie in einer prekären
    Situation auffangen kann.

    Manche Frauen fingen zu weinen an, viele hatten Kinder und wollten
    sich ein neues Leben in der Heimat aufbauen. Dafür brauchten sie Geld.
    Meistens waren die Kinder beim Vater, im Heim oder bei den eigenen
    Eltern und sie mussten sowohl denjenigen Geld geben, die sich um die
    Kinder kümmern, als auch die Tagesmiete bezahlen und oft auch noch für
    den aktuellen „Freund“ aufkommen. Einige haben gesagt, dass sie
    wirklich gern etwas anderes machen würden, aber es an mangelnden
    Deutschkenntnissen oder fehlender Aufenthaltserlaubnis hapere.
    Außerdem ist es für unausgebildete und oft auch mit mangelnden
    Sprachkenntnissen ausgestattete Frauen schwierig, einen Beruf zu
    finden, bei dem es möglich ist, für die finanziellen Notwendigkeiten ,
    die anfallen, aufzukommen. Wir haben mit einer Frau gesprochen, die
    weit über 60 war und sich beklagte, dass sie seit 20 Jahren in
    Deutschland lebe, aber keinen Job finde und sich deshalb prostituieren
    müsse, obwohl sie gesundheitlich völlig am Ende sei und eigentlich
    überhaupt nicht mehr in der Lage überhaupt zu arbeiten.

    All die weinenden Frauen und all die Geschichten dazu haben mich
    unglaublich traurig gemacht und an unserem Rechtsstaat zweifeln
    lassen. Nicht dass ich an diesem nicht auch schon vorher gezweifelt
    hätte, aber die Verelendung nochmal so deutlich zu sehen, hat mich
    extrem mitgenommen.


    Mir ist außerdem aufgefallen, dass einige der Stockwerke geschlossen
    wurden. Viele Häuser haben eigentlich fünf oder sechs Stockwerke, aber
    in einigen waren ein oder zwei Stockwerke abgesperrt. Natürlich habe
    ich mich gefragt, weshalb das so ist. Zuerst kam mir der Gedanke, dass
    sich die Anmeldepflicht des ProstSchG bemerkbar machen könnte, wobei
    ich jedoch nicht weiß, inwieweit die Häuser im Bahnhofsviertel
    kontrollieren, ob eine Frau einen „Hurenpass“ besitzt, oder nicht.

    Außerdem habe ich mich an Gespräche mit „Wirtschaftern“ erinnert, die
    sagen, dass sich die Prostitution einfach nur verlagert habe. Da es im
    Bahnhofsviertel massive Straßenkriminalität gibt, fühlen sich solvente
    Freier dort nicht mehr sicher und weichen lieber auf FKK Clubs aus.
    Somit seien die Freier der Laufhäuser des Bahnhofsviertels
    hauptsächlich Perverse aller Nationen, die Fetische ausleben wollen,
    die ihnen woanders keine Dame erfülle.

    Taxifahrer würden dazu angehalten Messegästen einen Besuch im FKK Club
    zu raten, statt sie ins Bahnhofsviertel zu bringen. Auch Freier in
    Freierforen schreiben negativ über das Bahnhofsviertel, weil es
    unsicher sei und erwähnen häufig, dass sie lieber
    „Ausweichmöglichkeiten“ nutzen.

    Das Ausbleiben solventer Freier führt eine Verschärfung der prekären
    Situation der Prostituierten herbei. Es kommt zur Verschuldung mit der
    Zimmermiete, die schließlich 140-150€ pro Tag beträgt und deshalb
    müssen Frauen dann Freier annehmen, vor denen sie Angst haben oder
    sich ekeln, sie müssen Praktiken ausüben, die ihre persönlichen
    Grenzen deutlich überschreiten und gehen auf Angebote unterhalb der
    untersten Preisgrenze ein, häufig auch ungeschützt. So hat mir meine
    ehemalige Kollegin zum Beispiel erzählt, so verschuldet gewesen zu
    sein, dass sie von einem Freier das Angebot annahm, 500€ zu erhalten,
    wenn sie sich von ihrer Hündin vor seinen Augen lecken ließe. Mir
    blutete mein Herz, zumal ich selbst Hundebesitzerin bin.

    Ich denke, dass es sich auch einfach nicht mehr so für die Frauen
    lohnt, im Bahnhofsviertel zu arbeiten. Da das Finanzamt den Frauen mit
    der Anmeldepflicht nun Daumenschrauben angelegt hat, die das
    „Geschäft“ nun noch weniger rentabel machen, kann ich mir vorstellen,
    dass Frauen sich in illegale Wohnungsbordelle zurückziehen, weil sie
    hoffen, dort durch eine geringere Tagesmiete und fehlendes Zahlen von
    Steuern, mehr zu verdienen.


    All dies spukt in meinem Kopf umher, seit ich an Code Red teilgenommen habe.

    Ich fühle mich hilflos und machtlos, weil ich in einem Staat lebe, der
    an Frauen verdient, die täglich misshandelt werden und sich vehement
    weigert, diesen Frauen zu helfen.

    Ich bin unglaublich wütend, dass es Menschen gibt, die dieses System
    unterstützen. Freier, die Frauen regelmäßig VERGEWALTIGEN und denken,
    wenn sie ihr 25€ geben, sei es einfach getan. Die denken, 25€ machen
    Frauen zu wolllüstigen Nymphen, die nichts besseres zu tun haben, als
    jeden Tag im Puff zu liegen, um einen Orgasmus nach dem anderen
    beschert zu bekommen.

    Mitschuld an dieser Illusion haben Pornos und die Medien, die bei
    Fragen zur Prostitution immer die Falschen befragen. Nämlich die, die
    davon profitieren, wenn Männer in dieser Blase leben. Zuhälter und
    Meinungsmacher, die den Menschen erzählen, was sie hören wollen, damit
    diese ihre Geldgier befriedigen, indem sie arme und traumatisierte
    Frauen widerstandslos an sie ausliefern.

    Es macht mich traurig, nicht helfen zu können und ich appelliere an
    die Bevölkerung und an jeden einzelnen Politiker, sich mit dem Leid
    der Frauen zu beschäftigen und endlich etwas zu tun.

    Die linken Parteien, die angeblich so sehr gegen Armut und Rassismus
    kämpfen, lassen Frauen, die von Armut und Rassismus betroffen sind,
    völlig im Stich.

    Die Konservativen, die so gerne regulieren und versuchen, mit allen
    Mitteln gegen Verbrechen zu kämpfen, regulieren höchstens den
    Geldhahn, als welcher die Frauen für sie fungieren und drehen ihn
    weiter auf.

    Menschenrechte sind in Deutschland wohl leider immernoch nur Männerrechte.

    Na Danke…

    (c) Sophie

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