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Schein, Sein und Schuld – Do stop believin’!

    Autorin: Ronja //

    Inspiriert durch zwei andere Ellas habe ich mich nochmal dem Bild der Prostitution gestellt, das ich einmal hatte – und dem, das aber im Gegensatz dazu meiner Realität entsprach.

    Als Teenagerin entdeckte ich meine Liebe zur Rock Poesie und insbesondere zu einem ganz bestimmten Literaten. Einer, der viel und gern über Rock’n’Roll und Boxen und, kurz und klischeetriefend gesagt, über ‘schwere Jungs’ und ‘leichte Mädchen’ geschrieben hat.
    Ganz besonders über Domenica [1].
    Erst nachdem ich viele Jahre später die Prostitution hinter mir lassen konnte, lernte ich, wie tragisch und traurig auch Domenicas Schicksal zuweilen war und dass im folgenden Absatz wohl genau der Rock Poet, der meine Teenagerjahre so prägte, gemeint ist: „Für einen namhaften Dichter, der sie einst als Muse schätzte, habe Domenica, so erzählen andere Freunde, nur noch Verachtung empfunden.“ [2]

    Damals, lange vor diesem Wissen, war der Samen aber gepflanzt.
    Durch ihn und sie und andere Frauen im Milieu wie Felicitas Schirow, in deren Café Pssst! ich auch mal anschaffen war und über das ich hier später noch schreiben werde. Und durch Shows wie „Rotlicht-Experten im Einsatz“, die das Gewerbe auch so darstellten, als könne es ein Traumjob sein sofern die Bordellleitung Ansprüche hat und sich ins Zeug legt. Einer der Puff-Tester wurde später wegen „Beihilfe zu Zuhälterei, Beihilfe zu schwerem Menschenhandel, Betruges und Beihilfe zum Betrug“ [3] im sogenannten Paradise-Prozess verurteilt. Auch das ahnte ich damals natürlich noch nicht.

    Auch heute gibt es, so glaube ich, denn ich meide zumindest solche Serien und Filme heute, immer wieder Medienprodukte, die das Rotlicht romantisieren. Und auch einzelne AkteurInnen aus den Reihen der Prostituierten und Betreibenden, die das Milieu als zahnlos und kuschelig und luxuriös darstellen. Eine bekannte Berliner Prostituierte, die auch als Kolumnistin arbeitet, meinte einmal, niemand würde als Edel-Escort geboren werden, die Frauen müssten sich aber trauen, so hohe Preise zu verlangen und sich gegen Demütigungen wehren. [4]

    Das ist alles die Scheinwelt, die auch mich damals angezogen hat: Hedonismus, Nightlife, die eingeschworene Gemeinschaft derer, die zu freigeistig oder zu unbequem für die brave Alltagsgesellschaft sind, die Bad Boys, die trotz allem ein Herz aus Gold haben und wir Frauen, Inbegriff der von aller Welt begehrten oder beneideten Femme Fatale, mit Sexappeal und Köpfchen und frei wie der Wind.

    Die Realität ist aber meistens: freier Fall. Harter Aufprall. Raubbau an Körper und Geist weil man den Scheiß bald nicht aushält ohne zu jedem Termin beschwipst zu sein oder hinterher zur Belohnung eine Line zu ziehen. Bad Men, Profiteure und Freier, ohne einen Funken Anstand und immer wieder werden Frauen in der Prostitution durch ihre Hand sogar umgebracht. Depressionen vom Leben nur nach Sonnenuntergang, weil man sich bald zu aussätzig fühlt, noch am Tag rauszugehen. Irgendwann dann aber doch die Tagestermine, irgendwo in einem dreckigen Hinterhof oder auf der Ladefläche eines Transporters. Nicht um Hedonismus zu leben. Sondern weil man verdammt nochmal Hunger hat.

    Schuld. Das klebte auch an mir als ich mich in dieser Realität fand statt in dem Schein, den ich mal geglaubt habe. Ich dachte, dass ich mich einfach nur zu blöd anstelle. Mich nicht genug anstrenge. Zu mäkelig bin und zu wenig Praktiken anbiete um schnell „aufzusteigen“ und ein sicheres Auskommen zu haben. Irgendwie doch nicht cool und geheimnisvoll und schlagfertig genug zu sein. Weder genug Sexappeal noch genug Köpfchen zu haben.

    Aber die Wahrheit ist: Die Realität wie ich sie erlebte, ist der Regelfall. Der Schein beruhigt die Gesellschaft, denn es gibt ja auch die Handvoll, die es geschafft haben, nicht wahr?
    Und er lockt weiter junge Frauen, die sich meistens bereits durch Gewalterfahrungen im freien Fall befinden, so war es bei mir ja auch, und dieser Schein scheint so verführerisch versprechend, aber, vermutlich ahnten wir das unbewusst, auch irgendwie tröstlich vertraut.
    Trauma-Bonding verkauft als rebellische „Berufs“wahl.
    Und einfach höhere Preise verlangen und sich gegen Demütigungen wehren ist für die meisten von uns einfach auch nicht drin.
    Eingeschüchtert und im Existenzkampf ist es schon eine Errungenschaft, unvorstellbare extra Demütigungen vorab für einen Zehner mehr zu verhandeln.

    Aber ich wollte ja noch vom Café Pssst! erzählen.
    Es gab dort eine Nacht, die ich nie vergessen werde.
    Es lief schlecht, ich hatte keinen einzigen Freier und schon fast im Morgengrauen kam eine andere Prostituierte rein, sie war vielleicht fünfzehn Jahre älter als ich, mit stark vergrößerter Brust und auch im Gesicht mehrfach operiert, optisch Typ Männerphantasie-entsprungene Barbie aber mit Augen und einer Mimik und Gestik und Sprechweise, die ich in ihrer intelligenten Eindringlichkeit nie vergessen werde.

    Sie hat über die Männer geschimpft und über das, was aus ihr geworden ist, und dass sie in ihrem Alter keinen Lauf mehr hätte, wenn sie nicht die vielen Tausender in Schönheits-OPs investiert hätte und scheißteure Klamotten und Taschen kauft, die sie gar nicht haben will, damit sie ein bestimmtes Bild für bestimmte Freier bedient.
    Sie war gefangen in einem Hamsterrad und sagte das auch so und ich fand sie trotzdem so bewundernswert und dachte aber auch: „Na, ich kann es ja trotzdem irgendwie besser machen.“

    Als wir langsam merkten, dass diese Nacht für uns beide ein Minusgeschäft wird (weil wir jeweils was auf eigene Kosten getrunken hatten ohne einen einzigen Freier), haben wir mit der Barkraft kurz vor Schichtende aus vollem Herzen Journeys „Don’t stop believin’“ mitgesungen.

    Irgendwie bleibt das meine eindringlichste Erinnerung an das Café Pssst!. Dieses Ladens von Felicitas Schirow, die später mit 60 Jahren und mit drückenden Schulden wieder in die Prostitution einsteigen sollte. [5]

    Die allermeisten von uns können es nicht besser machen.
    Und das Milieu spuckt uns aus oder nicht und redet uns dabei noch ein, dass unser Schicksal unsere eigene Schuld gewesen ist.

    Ich sage: wir müssen aufhören, die Prostitution zu verklären!
    Wir brauchen keine Filme und Bücher mehr über die Edel-Escort, die glücklich und selbstbestimmt durch die Nacht tanzt. Es mag sie ja geben. Aber das wäre, wie Elon Musks Einkommen und Lebensstil zu versprechen wenn eine Fließbandkraft für Tesla angeworben werden soll.
    Schein, der für die allermeisten illusorisch bleibt, weil das System gar nicht anders funktionieren kann!

    Wir brauchen mehr Darstellungen über die Realität der großen Mehrheit. Über die Schuld des Patriarchats, die Verkapitalisierung von Sexualität, das Frauenbild der Freier und Gewalt und Trauma.

    Weg mit den Romantisierungen und dem Schein!
    Do stop believin’!
    Und schau dir die Realität für die allermeisten Opfer des Systems Prostitution an!

    (c) Ronja

    [1] Domenica Niehoff (1945-2009)
    [2] https://www.sueddeutsche.de/panorama/domenica-begraebnis-der-kiez-trauert-1.480604 (zuletzt abgerufen am 01.06.2023)
    [3] https://de.wikipedia.org/wiki/Paradise_(Bordell) (zuletzt abgerufen am 01.06.2023)
    [4] Tweet vom 16.05.2022, Screenshot liegt vor
    [5] https://www.bild.de/regional/berlin/zuhaelterei/berlins-bekannteste-prostituierte-geht-wieder-anschaffen-54318302.bild.html (zuletzt abgerufen am 01.06.2023)

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