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Über die Rolle der Organisationen von Überlebenden der Prostitution und Betroffenen in der abolitionistischen Bewegung

    Können Sie sich eine “Black-lives-matter”-Bewegung vorstellen, in der weiße Menschen die führende Rolle übernehmen? Oder in der schwarze Menschen ausgeschlossen sind?

    Wir, das Netzwerk Ella, können und wollen das nicht. Eine politische Bewegung für Rechte und gegen Ausbeutung und Benachteiligung betroffener Personen kann nicht in “ihrem Namen” angeführt werden – und niemals ohne sie. Auch nicht die Bewegung für die Abschaffung der Prostitution.
    Aber genau diese unheilvolle Entwicklung findet seit einigen Jahren in der deutschen abolitionistischen Bewegung statt. Das ist nicht nur ein politischer Skandal, sondern ein fataler Fehler, der dazu führt, dass Abolition in Deutschland seit Februar 2014 nicht weiter gekommen ist, im Vergleich zu unseren Nachbarn in Frankreich.

    Wir schreiben das Jahr 2020. Seit Jahren kämpfen solidarische Abolitionistinnen zusammen mit Frauen aus der Prostitution dafür, dass Betroffene einbezogen werden und politische Entscheidungskompetenzen bekommen. Und genau dafür wurde das Netzwerk Ella gegründet: Damit Überlebende der Prostitution und Betroffene eine starke gemeinsame und unabhängige Stimme bekommen, eigene Forderungen stellen und politisch agieren können. Wir wollen Prostitution abschaffen, ohne gegen Frauen in der Prostitution vorzugehen!

    Wir, die Überlebenden und Betroffenen, sind nicht die Mitläufer oder Handlanger der abolitionistischen Bewegung. Wir sind nicht das Feigenblatt oder die “Alibi-Opfer”, die man präsentiert, um Mitleid zu erwecken und für Spenden zu sorgen, nachdem die Expertinnen gesprochen haben. Unsere eigene Expertise ist nicht immer erwünscht. Denn die, die als Experten “für uns” sprechen, teilen unsere Forderungen und Anliegen zuweilen ganz und gar nicht. Einige Abolitionistinnen hatten zum Beispiel kein Problem mit dem Prostitutionsverbot wegen Corona-Pandemie. Wir aber schon! Und es wurde in Berlin auch dank Netzwerk Ella durchgesetzt, dass Frauen trotz Prostitutionsverbots keine Bußgelder mehr zahlen mussten. 
    Es ist unsere Aufgabe, den Prohibitionismus nicht zu dulden, nicht nur weil das den Betroffenen, sondern auch der abolitionischen Idee schadet! Wenn wir schweigen, wird sich Deutschland irgenwo zwischen Prohibition und Freier-Bestrafung verirren.
    In allen Ländern, in denen das Abolitionistische Modell, auch das Nordische Modell genannt, eingeführt wurde, gab und gibt es Betroffenen-Verbände, die einen maßgeblichen und führenden Einfluß auf die dortige abolitionistische Bewegung hatten und immer noch haben. Frauen mit Erfahrungen in der Prostitution sind die Speerspitze der Bewegung! Das muss uns allen bewusst sein.

    In Frankreich zum Beispiel ist die abolitionistische Gesetzgebung seit 2016 rechtskräftig. Dagegen herrschen in Deutschland für Prostituierte katastrophale Zustände: Prostitutionsverbote, Sperr-Zonen und Bußgelder, Erzwingungs-Haft, Obdachlosigkeit, mangelhafte finanzielle Hilfe und medizinische Versorgung, Gewalt und Ausbeutung durch Freier, Zuhälter und Staat. Ja, der deutsche Staat kassiert nicht nur die Gewerbe-Steuern bei Bordell-Betreibenden, sondern auch die “Vergnügungs-Steuer” von jeder Frau in der Prostitution! 
    In Deutschland dürfen Freier entscheidende und verantwortungsvolle Positionen bekleiden: in der Politik, Justiz und bei der Polizei. Es gibt bis heute keine verbindlichen ethischen Richtlinien, die Politikern und Beamten den Sexkauf und jegliche Profite aus Prostitution Anderer untersagen.
    Nach sechs Jahren seit der “Entschließung des Europäischen Parlaments zur Bekämpfung der sexuellen Ausbeutung und Prostitution” (2013/2103(INI)) im Februar 2014, ist Deutschland immer noch das Bordell Europas und ein Paradies für Sex-Touristen aus aller Welt!
    Das ist die schmerzhafte deutsche Realität, es gibt wenig zu feiern… Doch Frankreich und andere Länder haben es geschafft und wenn Deutschland von Nachbarländern und Vorgängern lernt, haben auch wir Hoffnung auf eine Zukunft frei von Prostitution!

    Daher ist das hier hochpolitisch: Welchen Einfluß sollen Betroffene haben? Sind Überlebende ein Anhängsel der abolitionistischen Bewegung?
    Nein! Wir sind die, die sie anführen und lebendig machen. Wir sind eine starke Stimme und sprechen für uns selbst. Wir haben weitreichende Forderungen und klare Positionen:
    – Es darf keine Änderung der Prostitutions-Gesetzgebung geben, ohne dass Überlebende und Betroffene maßgeblich involviert sind – mit ihrer Expertise, Kritik und Ideen!
    – Netzwerk Ella unterstützt keine Bündnisse ohne Betroffenen-Organisationen! Das sind wir uns selbst, allen Betroffenen und auch der abolitionistischen Idee schuldig.
    Denn Abolitionismus kann nur erfolgreich sein, wenn die abolitionistische Bewegung fragt, wie sie die Forderungen der Überlebenden und Betroffenen unterstützen kann, und sich danach richtet. Alles andere schadet dem Abolitionismus und den Betroffenen. Wir sind niemals gegen Prostituierte – jedoch unbeirrbar gegen das System der Prostitution und sexueller Ausbeutung!

    Und was bedeutet das alles für deutsche abolitionistische Bewegung? Die Rolle der abolitionistischen Bewegung in jedem Land war und ist nicht, den Überlebenden und Betroffenen eine Bühne und eine Stimme zu geben oder für sie zu sprechen – nein!
    Wir, Frauen aus der Prostitution, können und wollen für uns selbst sprechen.
    Wir haben unsere Bühne – die Straßen und die Netzwerke.
    Wir haben eine Stimme – sie ist laut und deutlich.

    Die Aufgaben der bürgerlichen abolitionistischen Bewegung bestehen darin:
    – die führende Rolle der Überlebenden und Betroffenen in der Abolition anzuerkennen;
    – uns dabei zu unterstützen, dass unsere Anliegen gehört werden und unsere Forderungen politisch umgesetzt werden;
    – uns wertschätzend Beistand zu leisten in unserem Bestreben eine Welt ohne Sexkauf und sexuelle Ausbeutung zu erreichen;
    – uns solidarisch zur Seite zu stehen und als ebenbürtige Mitstreiter für das Abolitionistische Modell in Deutschland zu kämpfen.
    Ja, kämpfen statt strategisch lavieren! Denn Sex- und Porno-Industrie sind einflussreiche Gegner, mit beträchtlichen finanziellen Mitteln und vielen Lobbyisten hinter sich. 
    Uns wird nichts geschenkt, wir müssen gemeinsam für Abolition streiten, werben und aufklären!

    “The abolitionist movement has to be survivor-led.” – Die abolitionistische Bewegung wird von Betroffenen angeführt.
    Diese Parole gilt weltweit – orientieren wir uns daran!


    05. Oktober 2020

    © Netzwerk Ella

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