Jeder Mensch kennt es wahrscheinlich, wenn man im Chaos des Alltags das Wesentliche aus den Augen verliert. Wenn man sich über Dinge aufregt, die eigentlich gar nicht wichtig sind, oder in Streitereien gerät, bei denen keiner der Seiten mehr weiß, worum es überhaupt geht. Oder, die Trauma-Variante: Wenn man vergisst, was man schon alles geschafft hat und dass die Bilder und Gedanken im eigenen Kopf eigentlich zur Vergangenheit gehören.
Im Alltag ist das menschlich und normal. Mit Routinen, Self-Care-Momenten oder einem warmen Kaffee am Morgen kann man versuchen, zur Ruhe zu kommen und wieder klarer zu sehen.
In politischen Diskussionen passiert dasselbe, gerade in der heutigen algorithmen-gesteuerten und klick-finanzierten Zeit. Anstatt sich mit der Sache auseinanderzusetzen, wird der Konflikt über persönliche Attacken und Metadiskussionen auf Nebenschauplätze verschoben.
Für alle, die neu auf uns gestoßen sind, und alle, die vielleicht dabei sind, sich in solchen Nebenschauplätzen zu verlieren, möchten wir uns in den nächsten Wochen regelmäßig die Zeit nehmen, um in Ruhe zu rekapitulieren: Wer sind wir, wofür kämpfen wir, warum und wie sind wir zu unserer politischen Position gekommen?
Fangen wir vorne an, nämlich bei der Frage, wer wir sind.
Wir sind Frauen aus der Prostitution. Jede von uns hat ihre eigene Geschichte und die konkreten Erfahrungen sind breit gestreut – Orte, Zeiträume, Arten der Prostitution variieren alle. Aber egal ob „Edel-Escort“ oder Straßenstrich, ob ausländisch oder deutsch, wir haben alle in der Prostitution Gewalt, Demütigung und Ausbeutung erlebt. Wir sprechen nicht von den „Schattenseiten der Prostitution“. Prostitution ist Schatten. Eine Dunkelheit, die dich in sich reinzieht und versucht, dich nicht mehr loszulassen.
Wir wissen, wovon wir sprechen. Und deswegen kämpfen wir dafür, dass in Zukunft keine Frau und kein Mädchen mehr ein Preisschild an sich trägt.