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Offener Brief an Bundeskanzler Olaf Scholz

    Netzwerk Ella – Unabhängige Interessenvertretung von Frauen aus der Prostitution
    Homepage: netzwerk-ella.de, E-Mail: post@netzwerk-ella.de

    Offener Brief an Bundeskanzler Olaf Scholz

    Sexkauf ist inakzeptabel – Nordisches Modell jetzt!

    Schlangenbad, 21.11.2023

    Sehr geehrter Herr Bundeskanzler,

    als Zusammenschluss von Frauen aus der Prostitution begrüßen wir Ihre am 15.11.2023 öffentlich geäußerte Position zum Thema „Prostitution und Sexkaufverbot“ von ganzem Herzen! Ihre Worte bestätigen sowohl unsere jahrelange Erfahrungen und Positionen als auch die Positionen und Empfehlungen des Europäischen Parlaments sowie anderer unzähliger Organisationen und Experten in Deutschland und im Ausland.

    Netzwerk Ella, als unabhängige Interessenvertretung von Frauen aus der Prostitution, ist das Sprachrohr für diejenigen, die keine Stimme haben – etwa, weil sie kein Deutsch sprechen –, die kein Gehör finden oder, die von Organisationen, welche Prostitution und Pornografie befürworten, nicht repräsentiert werden. Wir profitieren nicht von Prostitution Dritter und kooperieren nicht mit Profiteuren der Sexindustrie oder deren Interessenvertretern.
    Unser Fokus liegt auf der Situation von Frauen in der Prostitution. Aufgrund unserer sozio-ökonomischen Analysen und eigener Erfahrungen setzen wir uns dafür ein, dass Prostitution als ein System geschlechtsspezifischer Gewalt, Unterdrückung und Ausbeutung – das insbesondere Frauen trifft – erkannt und abgeschafft wird. Netzwerk Ella engagiert sich für eine Gesellschaft, in der Sexkauf geächtet wird, wobei Prostituierte entkriminalisiert werden und umfassende Unterstützung für ein Leben außerhalb der Prostitution bekommen, nach dem Vorbild solcher Länder wie Schweden, Frankreich oder Israel.

    Das Prostituierten-Schutzgesetz von 2017 ist, wie auch schon das Prostitutions-Gesetz von 2002, mehr als problematisch. Einerseits werden Gewalt, Unterdrückung und Ausbeutung in der Prostitution erkannt, andererseits wird die Annahme, Prostitution sei eine Dienstleistung nicht hinterfragt. Die inneren frauenverachtenden Strukturen der Sexindustrie blieben unangetastet und wurden sogar gestärkt. Den Prostituierten werden zudem Pflichten, Vorschriften und Sanktionen auferlegt, die kaum zu bewältigen sind und die Betroffenen in eine noch größere Not bringen. So kostet die Anmeldung in München 35 Euro – für eine Frau in einer Notlage ist das eine ernsthafte Hürde. Für Prostitution ohne Anmeldung droht aber ein Bußgeld von 1.000 Euro!
    Im Mittelpunkt der Maßnahmen steht nicht der Schutz von Prostituierten, sondern ihre Verwaltung, Reglementierung und Sanktionierung. Dadurch werden die Betroffenen weiter in Prostitution gehalten, denn um ihre Steuerschulden oder Bußgelder abzuzahlen, bleibt ihnen oft keine andere Option, als weiterhin der Prostitution nachzugehen. Gleichzeitig sind Wuchermieten und ungeschützter Sex allgemeine Praxis. Die Folgeschäden werden meist auf die Prostituierten selbst oder auf ihre Herkunftsländer abgewälzt. Davon profitieren sowohl die Staatskasse als auch Freier, Zuhälter, Bordellbetreiber und andere Akteure der Sexindustrie.

    Diese Praxis steht in einem grundlegenden Widerspruch zu mehreren politischen Dokumenten, von
    denen hier nur einige exemplarisch genannt werden:

    1. Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form der Diskriminierung der Frau (1979)
    2. Entschließung des Europäischen Parlaments zur sexuellen Ausbeutung, zur Prostitution und deren Auswirkung auf die Gleichstellung der Geschlechter (2014)
    3. Entschließung des Europäischen Parlaments zur Umsetzung der Richtlinie 2011/36/EU zur Verhütung und Bekämpfung des Menschenhandels und zum Schutz seiner Opfer (2021)
    4. Entschließung des Europäischen Parlaments zur Regulierung der Prostitution in der EU: ihre grenzübergreifenden Auswirkungen und die Konsequenzen für die Gleichstellung und die Frauenrechte (2023)

    Seit der Legalisierung im Jahr 2002 sind mindestens 110 Frauen in der deutschen Prostitution gewaltsam gestorben. [1] Da hauptsächlich ausländische Frauen als Prostituierte in Deutschland tätig sind, ist die Lage so, dass viele von ihnen Mütter sind. Wenn diese Frauen sterben, bleiben ihre Kinder allein zurück. Oft ist dann niemand mehr für sie da…
    Die aktuelle Gesetzgebung kann nicht verhindern, dass deutsche Prostitution weitere Gewaltopfer und Waisenkinder zur Folge hat. Je länger diese akzeptierende Haltung gegenüber dem Sexkauf und der Sexindustrie insgesamt anhält, desto mehr Schaden tragen die Prostituierten davon, desto mehr Leben und Familien werden zerstört – in Deutschland und im Ausland. Auch die Ergebnisse der Evaluation des Prostituierten-Schutzgesetzes im Sommer 2025 werden daran nichts ändern…

    Aus unserer Sicht ist die effizienteste Lösung diejenige, die die Wurzel des Problems erkennt und dagegen angeht: Ohne das Geld der Freier kann das System der Prostitution nicht existieren. Alle Betreiber, Zuhälter, Menschenhändler und andere Profiteure hätten dann keinen Anreiz mehr…
    So wichtig Schutz und Unterstützung für Prostituierte auch sind, so ist eine erfolgreiche Einstiegs-Prävention auf lange Sicht strategisch entscheidend – noch bevor der Schaden angerichtet wurde. Die beste Prävention der Prostitution und sexueller Ausbeutung lautet: Nachfrage bekämpfen.
    Unserer Meinung nach erfordert die aktuelle Situation der Prostituierten schnelles Handeln für die gesamte Bundesrepublik Deutschland, auf allen Ebenen – jetzt – statt in zwei Jahren. Denn es gibt bereits erprobte systemische Lösungen und Deutschland ist in der glücklichen Lage, von den Erfahrungen anderer europäischer Länder, wie Schweden oder Frankreich, profitieren zu können. Auch das israelische Beispiel ist bemerkenswert. Es gibt einen Ausweg aus der aktuellen Misere – es ist das Nordische Modell.

    Profiteure aus Prostitution Dritter sprechen nicht in unserem Namen. Ihre Ziele und Forderungen widersprechen den Interessen von Prostituierten, stehen diesen sogar entgegen.
    Nach 22 Jahren liberaler Gesetzgebung ist es klar: Prostitution produziert Tote und Waisenkinder. Wir sehen, dass Sexkauf normalisiert wurde. Dass Freiwilligkeit sowohl die Freier-Gewalt als auch die Sanktionen gegen Prostituierte letztlich nur legitimieren soll. Die Notlagen und das Leid der prostituierten Frauen werden ignoriert, sie werden allein gelassen. Das ist unser Alltag. Das darf ein Rechts-Staat nicht zulassen.
    „Dies sollte dem Gesetzgeber Anlass genug sein, eine substanzielle Änderung der Gesetzeslage herbeizuführen, denn seit der Reglementierung von Prostitution im Jahre 2002 trägt der deutsche Gesetzgeber einen erheblichen Anteil an den Gefahren für Leib und Leben der Menschen in der Prostitution und persistiert die Möglichkeit von Grundrechtsverletzungen durch Dritte. Der Staat kommt seinen Gewährleistungspflichten für die Grundrechte in der Prostitution auch mit dem ProstSchG in keiner Weise ausreichend nach.“ [2]

    Deutschland muss aussteigen – endlich aussteigen aus dem System Prostitution!

    Mit freundlichen Grüßen

    Pani K.
    im Namen von Netzwerk Ella

    Quellen:
    [1] Schon: Ausverkauft! Prostitution im Spiegel von Wissenschaft und Politik (2021), S. 348-349
    [2] Mack, Rommelfanger: Sexkauf. Eine rechtliche und rechtsethische Untersuchung der Prostitution (2023), S. 187

    Das Prinzip der altruistischen Leih-Mutterschaft

      Autorin: Pani K. //

      Ich beginne mit einem Zitat von Annika Ross, aus ihrem Emma-Artikel vom 14. März 2022:
      „Während andere Frauen aus der Ukraine flüchten, müssen sie in den Luft-Schutz-Bunkern Kiews ausharren: Leih-Mütter.
      BioTexCom, der größte Anbieter für Reproduktions-Medizin, warnte auf Facebook seine deutschen Kunden davor, „ihre“ Leih-Mutter aus dem Kriegsland holen zu wollen: „Die Geburt des Kindes außerhalb der Ukraine ist nicht legal. Die Leih-Mutter wird als Mutter gelten und der Versuch der Übergabe des Kindes als Kinder-Handel bezeichnet. Sie werden nie als Eltern des Kindes anerkannt.“
      Kinderhandel, Menschenhandel – auf einmal wird das also in der Branche klar benannt. Bei rund 50.000 Euro liegt der Startpreis für ein Baby aus der Ukraine;…“ [1]

      Der Gesetz-Entwurf zur altruistischen Leih-Mutterschaft verspricht die Lösung aller ethischen Probleme im Vergleich zur ihrer kommerziellen Variante: Kein Preis, kein Handel – keine Probleme! Doch das Versprechen wird nicht eingelöst – auch ohne den vertraglichen Kaufpreis bleiben weitere Verletzungen der Menschen-Rechte von Frauen und Kindern bestehen.

      Eine Schwangerschaft ist kein Spaziergang, sondern eine lange und gefährliche Extrem-Belastung für eine Frau, sowohl körperlich als auch psychisch. Es ist immer eine „Reise ins Unbekannte“, denn jede Schwangerschaft ist einzigartig und kann schwere gesundheitliche Folgen für Mutter und Kind haben, ja sogar Lebensgefahr oder Tod bedeuten. Und so eine Schwangerschaft im Auftrag der Wunsch-Eltern ist keine Ausnahme. Im Gegenteil – solche Schwangerschaften bergen noch mehr Risiken und Komplikationen für schwangere Frauen. Ihr Recht auf körperliche Unversehrtheit und sogar ihr Recht auf Leben werden dadurch aufs Spiel gesetzt, massiv bedroht und verletzt. Diese Menschen zahlen so den maximalen Preis.

      Zu bedenken ist auch, dass fast alle Leih-Mütter bereits selbst Kinder haben, deren Rechte ebenfalls geschützt werden müssen. Etwa das Recht der Kinder auf ihre Mutter, die für das Eltern-Glück der Auftrag-Geber sterben könnte. In einem solchen Fall würde das Ergebnis der induzierten Schwangerschaft so aussehen: Auf der einen Seite – ein oder mehrere verwaiste Kinder, auf der anderen – glückliche Wunsch-Eltern mit dem „bestellten“ Neugeborenen. Das ist ein reales Risiko, dem betroffene Kinder bewusst und billigend ausgesetzt werden. Auch hier: eine enorme Zumutung und ein hoher Preis, selbst für diese kleinen Menschen.

      Doch das Recht auf eigene biologische Reproduktion, auch „Reproduktive Gerechtigkeit“ genannt, und der unerfüllte Kinder-Wunsch der Bestell-Eltern bekommen viel Gewicht und werden weiterhin hochgehalten. Das Recht auf Reproduktion wird dem Recht auf Leben gleichgestellt – obwohl es offensichtlich ist, dass Elternschaft nur eine Frage der eigenen Lebens-Qualität und nicht der Existenz darstellt. Diese Rechte sind grundsätzlich unvergleichbar!

      Diese „Reproduktive Gerechtigkeit“ hört sich wirklich gut an – meint jedoch das Recht und die Freiheit „eine Leih-Mutter zu nutzen und sich maßgeschneiderte Kinder anzueignen“. Sind das Gerechtigkeit und Freiheit? Oder – Kolonisierung und Sklaverei? Oder ganz banal: Verachtung und Entmenschlichung von Frauen und Kindern, ihre „Verdinglichung“ bis ins Extrem. Ohne Unterschied in welchem Land und unter welchen sozialen Bedingungen, ob in den USA, der Ukraine, Indien oder Deutschland, das Prinzip der Leih-Mutterschaft, auch der altruistischen, bleibt überall gleich: Dein Leben – für mein Glück!

      Freiheit ohne Gleichheit [der Macht] bedeutet: die Starken bestimmen das Spiel – das sagte die Soziologin Eva Illouz vor einigen Jahren in einem Interview.
      Freiheit ohne notwendige Ressourcen, Rechte und Schutz, ist die Freiheit der Mächtigen und Reichen – das sage ich, aus eigener Erfahrung als Prostitutions-Überlebende und Opfer des Menschen-Handels. Denn Freiheit kann Ausbeutung, Gewalt und Unterdrückung sogar rechtfertigen: „Sie wollte es doch selbst so!“ – eine ewige Legitimation der Täter.

      Frauen in der Reproduktions-Industrie werden als Organ-Lieferanten und Brut-Maschinen behandelt – legitim und legal. Diese Form biologischer Ausbeutung weiblicher Körper ist strukturell identisch mit der Ausbeutung im System der Prostitution und der Sex-Industrie insgesamt. Das Utilisieren und Kommodifizieren der Frauen in diesen Bereichen werden in Kauf genommen und nicht als Verbrechen gegen die Menschenwürde erkannt und bekämpft.

      Diese globalen und wachsenden Prozesse der restlosen Ausplünderung und Verwertung weiblicher Menschen, ja ihre „Ver-Zweckung“, sind nicht etwa Fehlentwicklungen, sondern folgerichtige Konsequenzen der weltweiten neoliberalen Gesellschafts-Ordnung, von der Eva Illouz sprach. Wo Menschen bloß ein Mittel zum Zweck sind, dort werden Menschen-Rechte zu einem Handels- oder Konsumgut und verkommen zu einem Privileg von Wenigen.

      Ich schließe mit einem Zitat von Aude Mircovic, Direktorin des Kollektivs „Juristen für die Kindheit“:
      „Kein juristischer Rahmen wird jemals angemessen sein, weil nicht nur diese oder jene Modalität der Leih-Mutterschaft ein Problem darstellt, sondern das Prinzip der Leih-Mutterschaft selbst, das gegen die Menschenwürde verstößt: Keine Regelung kann die Tatsache akzeptabel machen, dass eine Frau dazu benutzt wird, ein Kind auszutragen, das nicht ihr eigenes ist. Keine Regelung kann die Tatsache akzeptabel machen, dass ein Kind vertraglich bestellt und ausgehändigt wird.“ [2]

      Kurz gesagt: Menschenwürde ist unantastbar. Das Prinzip der Leih-Mutterschaft verstößt gegen die Menschenwürde.

      Leih-Mutterschaft ist Menschen-Handel.
      Stoppt Menschen-Handel – weltweit!


      © Pani K. – Netzwerk Ella – 2023


      Quellen:

      [1] Annika Ross, „Die Leihmütter von Kiew“, Emma, 14.03.2022, https://t1p.de/tlykx

      [2] Franziska Harter, „Internationale Experten wollen Leihmutterschaft weltweit abschaffen“, Die Tagespost, 06.03.2023, https://t1p.de/zzlra

      Bild: svklimkin, pixabay.com/de/users/klimkin-1298145/

      Die Basics, Teil 7

        Gute versus Schlechte Prostitution

        Oft wird so getan, als gäbe es eine gute und eine schlechte Prostitution: „Schlecht“ meint Zwangsprostitution, Gewalt und Alternativlosigkeit. „Gut“ dagegen zeichnet das Bild einer unabhängigen, emanzipierten und freiwilligen Prostituierten, die alles unter Kontrolle hat, vor allem ihre Freier. Alles dazwischen könne durch bessere Rahmenbedingungen gemanagt werden, ein „Job wie jeder andere“ eben. Und zweifellos sei sexuelle Selbstbestimmung auch dann möglich, wenn die eigene Existenzgrundlage von der Lusterfüllung der Kundschaft abhängt.

        Die Art, wie die Debatte geführt wird, basiert aber nicht nur auf dieser lebensfremden Hypothese. Nehmen wir einfach mal an, es gäbe tatsächlich eine „gute“ Prostitution. Ähnlich, wie es gewisse erotische Vorlieben gibt, die Erwachsene einvernehmlich ausleben können. Ein Gedankenspiel:

        Es ist Sonntag Mittag, draußen regnet es, aber das stört dich nicht weiter. Du sitzt mit deinen zwei besten Freundinnen am Küchentisch mit Kaffee und Kuchen vom Bäcker von nebenan. Marie und Lea. Eigentlich redet ihr über Maries kleinen Dackel, der bisher weder stubenrein ist noch alleine zu Hause bleiben kann. Aber du kannst dich nicht konzentrieren und musst es einfach ansprechen: „Lea, alles okay? Dein Auge sieht irgendwie geschwollen aus.“
        Lea schaut zu Boden und murmelt nur „Alles gut, Markus war gestern etwas leidenschaftlich…“ Marie springt ein, mit deutlich empörter Stimme: „Was soll das? Es nervt echt derbe, dass du andere Beziehungen nicht akzeptieren kannst.“
        Ein bisschen eingeschüchtert kommst du dir vor, oder vielleicht nicht eingeschüchtert, eher verwirrt. „Ich hab doch nichts gesagt, mach mir doch nur Sorgen. Ist das wirklich in Ordnung so?“
        – „Ist das dein Ernst? Wer zwingt sie bitte, in der Beziehung zu bleiben? Sie kann doch jederzeit gehen. Wirklich, dein Scheiß geht gar nicht. Lea kann auf sich selbst aufpassen.“ Kurz wird wohl auch Marie nervös und dreht sich zu Lea: „Oder meinst du, Markus hat wirklich übertrieben?“
        Lea hat mittlerweile durchgeatmet und schaut uns selbstbewusst an. „Ja vielleicht hat er ein bisschen übertrieben, aber alles gut. Natürlich will ich die Beziehung mit ihm, sonst wäre ich ja nicht mit ihm zusammen. Ist ja nicht so, als würde er mich mit einer Pistole am Kopf dazu zwingen. Ich rede einfach mit ihm, dass er das nächste mal etwas vorsichtiger sein soll.“
        Du bekommst ein ganz komisches Gefühl in deiner Bauchgegend. „Ich weiß nicht. Heute bist du hier, aber das ist das erste mal seit 3 Monaten, du gehst viel seltener aus dem Haus seit du mit ihm zusammen bist. Und jetzt das dicke Auge. Bist du sicher, dass du keine Hilfe brauchst?“
        Marie steht auf und zeigt mit ihrer Gabel auf dein Gesicht. „Du reißt dich jetzt zusammen. Es ist nicht mehr 2020, wo Schläge in Beziehungen noch diskriminiert wurden und Praktizierende sich verstecken mussten. Wenn Lea Hilfe braucht, kann sie das schon äußern, und du hör mal auf, solche Vorurteile über BDSM zu verbreiten. Auch Menschen mit abweichenden sexuellen Vorlieben haben Rechte!“
        Du stehst auch auf. „BDSM interessiert mich nicht. Ich weiß auch nicht, was das mit irgendwelchen Rechten zu tun hat. Mich interessiert nicht, wen was anmacht oder woran andere Paare gemeinsam Spaß haben. Aber offensichtlich geht es Lea nicht gut, offensichtlich stimmt etwas nicht, und offensichtlich ist es nicht in Ordnung, wenn dein Freund dich so schlägt, dass dein Auge zuschwillt! Und ich bin es leid, so zu tun, als wäre das alles völlig normal.“

        Das war natürlich eine dystopische Analogie einer Gesellschaft, die eigentlich über einvernehmliche spezielle Vorlieben wie BDSM aufklären wollte, aber den öffentlichen Diskurs im Endeffekt derart verzerrt hat, dass aus „BDSM zwischen Erwachsenen ist in Ordnung“ irgendwann wurde: „Schläge in Beziehungen sind normal, und Partnerschaftsgewalt ist die Ausnahme, deren Bekämpfung nicht dazu führen darf, diese Beziehungen zu kritisieren.“
        Ähnlich, wie aus „Wir sollen Frauen aus/in der Prostitution respektieren“ irgendwann wurde: „Sexarbeit ist normal, und Zwangsprostitution oder Gewalt sind die Ausnahme, deren Bekämpfung nicht dazu führen darf, diese Arbeit zu kritisieren.“

        Lassen wir doch diesen Unsinn.

        – Zwangsprostitution findet statt, in Deutschland. Genaue Zahlen herauszufinden, ist so gut wie unmöglich. Aber gerne erinnern wir an die Statistik aus Teil 5: 55% der Freier in Deutschland haben Zwangsprostitution beobachtet. (1)

        – Vergewaltigungen in der Prostitution finden statt, in Deutschland. Auch hier sind genaue Zahlen schwierig, also verweisen wir erneut auf die Freierstudie: „Ein Mann kann alles machen, was er will, wenn er für eine Prostituierte bezahlt“ glauben 39% der Befragten. Und 35% sind der Überzeugung, „dass Frauen in der Prostitution nicht vergewaltigt werden können“. (1)

        – Die Folgen für die Prostituierten, in Deutschland: enorme Raten von Tötungen (2), Gewalt, psychischen Traumata und Suchterkrankungen (3), Suizidalität (4) und viele weiteren negativen Konsequenzen. Und diese Folgen werden in Deutschland nicht mehr offiziell erfasst, um eine mögliche Stigmatisierung der „Sexarbeit“ zu verhindern. (2)

        Kurz gesagt: Angeblich selbstbestimmte „Sexarbeit“ interessiert mich nicht. Mich interessiert nicht, wen was anmacht oder welche Absprachen Menschen mit ihren One Night Stands treffen. Aber offensichtlich geschieht in der legalen, öffentlich gebilligten Prostitution tagtäglich Gewalt. Offensichtlich leiden dort viele Frauen bis hin zum Tod. Und offensichtlich kann es keine Arbeit sein, wenn deine Kundschaft zum großen Teil davon überzeugt ist, dich vergewaltigen zu dürfen!
        Und ich bin es leid, so zu tun, als wäre das alles völlig normal.


        © Netzwerk Ella – 2023


        Quellen:

        (1) Farley, Kleine, Neuhaus, McDowell, Schulz, Nitschmann (2022): Männer in Deutschland, die für Sex zahlen – und was sie uns über das Versagen der legalen Prostitution beibringen.
        https://t1p.de/m4c8i

        (2) Schon, Hoheide (2021): Murders In the German Sex Trade: 1920 to 2017, Dignity: A Journal of Analysis of Exploitation and Violence: Vol. 6: Iss. 1, Article 4.
        https://t1p.de/581ah

        (3) BMFSFJ (2004): Lebenssituation, Sicherheit und Gesundheit von Frauen in Deutschland, Langfassung Teil 1.
        https://t1p.de/n2swj

        (4) Europäisches Parlament, Fachabteilung C (2014): Sexuelle Ausbeutung und Prostitution und ihre Auswirkungen auf die Gleichstellung der Geschlechter.
        https://t1p.de/d6p7z

        Die Basics – Teil 6

          Viele Wege führen in die Prostitution. Mit Aufkommen von Angeboten wie Online Coachings „für eine erfolgreiche Karriere auf OnlyFans!“ werden in Zukunft sicherlich weitere Wege erschlossen werden. Was für eine „Errungenschaft“ unserer Gesellschaft…

          Und es gibt wirklich viele Wege. Der Hauptweg, quasi die Achterbahn ins Milieu, ist sexueller Missbrauch in der Kindheit. Zusätzlich gibt es unzählige Seiten- und Landstraßen, zum Beispiel andere Kindheitstraumata, Gewalterfahrungen oder Armut. Nicht zu vergessen natürlich: Zwangsprostitution verschiedenster Art (Menschenhandel kennt übrigens weder Landes- noch Altersgrenzen).

          Einmal in der Prostitution angekommen, wird der eigene Körper zur Ware. Männer bezahlen und erhalten den Zugriff auf dich und deinen Körper. Wie wir gesehen haben, glauben knapp 40% der Freier, deinen Körper völlig uneingeschränkt benutzen zu „dürfen“. Und nur wenige Prozentpunkte weniger, dass Vergewaltigung kein Konzept ist, das auf dich zutrifft.

          „Ich hab dich nicht vergewaltigt, du bist doch nur ne Nutte“ ist ein Satz, den so oder so ähnlich sicher schon viele Prostituierte gehört haben.

          Wenn du Glück hast, hört dein Körper schnell auf, mitzumachen. Du spürst kaum noch etwas, dein Kopf fühlt sich wie Watte an und die Freier arbeitest du wie ein Roboter ab. Wenn du weniger Glück hast, benötigst du vielleicht Substanzen oder Selbstverletzung, um es ertragen zu können, dich wieder anfassen zu lassen. Wieder deine Grenzen überschreiten zu lassen. Denn eigentlich willst du nicht hier sein, eigentlich willst du nur Wärme und Geborgenheit, so wie alle Menschen. Aber er hat bezahlt, also legst du dich hin und erträgst es, während er den Porno von gestern Abend nachspielt. Selbst wenn er dir dabei körperliche Schmerzen zufügt. Das Essen, das du dir von diesem Geld kaufst, schmeckt nicht, aber füllt den Magen.

          Es gibt so viele Wege in die Prostitution, aber wenn man einmal drin ist, ständig entmenschlicht wird, ständig angefasst, gefickt, herabgewertet, oft genug auch geschlagen, vergewaltigt und bedroht, wenn der eigene Wert mit einer konkreten Geldsumme beziffert wird und das alles zu deinem normalen Alltag wird… dann ist es verdammt schwer, einen Weg raus zu sehen.

          Zumal Ausstiegshilfen leider rar gesät sind (ganz im Gegenteil zu OnlyFans-Coachings, nebenbei bemerkt).

          Aber es gibt den Weg raus. Man kann rauskommen, man kann sich ein Leben außerhalb aufbauen. Schulden abbauen. Trauma-Therapie. Ggf. Suchttherapie. Job suchen. Soziales Umfeld versuchen aufzubauen, idealerweise nicht in häusliche Gewalt geraten. Lernen, sich sicher zu fühlen. Lernen, den eigenen Körper wieder zu spüren und lernen, so etwas wie ein Selbstwertgefühl aufzubauen.

          Es geht. Man kann rauskommen. Aber lasst uns als Gesellschaft doch nicht die sexuelle Befriedigung einiger Menschen höher werten als Gesundheit, Wohlergehen, Würde und Freiheit von anderen!

          Wer zusätzlich zur Betroffenenperspektive auch eine wissenschaftliche Aufarbeitung lesen möchte – diese Publikation geht sowohl auf den Zusammenhang zwischen Missbrauchserfahrungen in der Kindheit und Einstieg in die Prostitution ein, als auch auf die Gefahren, wenn man einmal reingeraten ist:

          Risks of Prostitution: When the Person Is the Product (Farley 2018) https://prostitutionresearch.com/risks-of-prostitution-when-the-person-is-the-product/

          Die Basics, Teil 5

            Heute schauen wir uns die Seite der Freier an.

            Keine Argumentation, nur Fakten.

            Auszüge Untersuchung 1:Männer in Deutschland, die für Sex zahlen – und was sie uns über das Scheitern der legalen Prostitution beibringen: ein Bericht über das Sexgewerbe in 6 Ländern aus der Perspektive der gesellschaftlich unsichtbaren Freier

            Zusammenfassung Methode: Umfrage, 763 Sexkäufer insgesamt, davon 96 aus Deutschland; anonyme Interviews; qualitative und quantitative Daten

            Zitate von befragten Freiern:

            – „In Deutschland sind die Gesetze nicht so wirksam; man kann fast alles machen, was man will. Es sieht aus, als hätte alles seine Ordnung, aber das sind nur Worte.“

            -„Sie war gezwungen. Ich konnte es an ihrem Verhalten sehen: sie hatte keinen Willen. Sie war da wie eine Sexmaschine. Ich hatte trotzdem mit ihr Sex weil ich dafür bezahlt habe.“

            -„Die Prostituierte steht unter der Fuchtel des Zuhälters. Sie ist sein Eigentum.“

            Umfrageergebnisse, spezifisch Deutschland:

            – 55% gaben zu, einen Zuhälter oder Menschenhändler beobachtet oder bezahlt zu haben; 62% haben Menschenhandel vermutet; nur 1% haben Menschenhandel den Behörden gemeldet.

            – 35% der befragten deutschen Freier stimmen zu: „Das Konzept der Vergewaltigung greift nicht bei Prostituierten.“; 39% der Aussage „Ein Mann kann alles machen, was er will, wenn er für eine Prostituierte bezahlt.“

            Auszüge Untersuchung 2:Comparing Sex Buyers With Men Who Do Not Buy Sex: New Data on Prostitution and Trafficking

            Zusammenfassung Methode: 101 Sexkäufer und 101 Nicht-Sexkäufer; Gruppen nach Alter, Ethnie und Bildungsstatus einander angeglichen; persönliche (aber anonyme) Umfrage; quantitative und qualitative Daten; USA

            Zitate von befragten Freiern:

            – „For me, being with a prostitute is not a relationship. It’s like having a cup of coffee, when you’re done, you throw it out“

            – „it’s like she’s not really there“

            (Wer dieses Zitat nicht einordnen kann, der Freier beschreibt eine Dissoziation: Ein Schutzmechanismus des Gehirns während oder nach traumatischen Ereignissen, der sich unter anderem so äußern kann, dass man wie neben sich getreten wirkt.)

            Umfrageergebnisse:

            – 15% der befragten Sexkäufer haben angegeben, sie würden eine Frau zu Sex zwingen oder vergewaltigen, wenn sie damit davonkommen würden und es niemand wüsste. Unter den befragten Nicht-Sexkäufern haben 2% dieser Aussage zugestimmt.

            – Die befragten Sexkäufer berichten auch von mehr selbst durchgeführtem sexuell aggressivem Verhalten als die befragten Nicht-Sexkäufer.

            – 37% der Sexkäufer haben angegeben, dass nach Bezahlen die Frau verpflichtet ist zu tun, was auch immer der Käufer möchte. 21% der befragten Nicht-Sexkäufer stimmen dem zu.

            Auszüge Untersuchung 3:Is Trafficking in Human Beings Demand Driven? A Multi-Country Pilot Study

            Zusammenfassung Methode: Umfragen, 390 Befragte insgesamt, davon 185 Sexkäufer; aus Indien, Thailand, Italien, Schweden, Dänemark und Japan

            Zitat eines befragten Freiers:

            – „When there is violence it is mostly the prostitute’s fault. See, I am going to buy something. If I am satisfied with what I am buying, then why should I be violent?“ (Sexkäufer aus Indien)

            Umfrageergebnisse:

            – über 3/4 der befragten Sexkäufer bevorzugen eine Prostituierte im Alter von 25 oder jünger; 22% bevorzugen eine Prostituierte von 18 oder jünger

            Anmerkung: Im Rahmen der Untersuchung wurde deutlich, dass den Sexkäufern im Allgemeinen wichtig war, dass die Prostituierten alt genug seien für Konsens (inklusiver der Sexkäufer, die explizit Minderjährige bevorzugen). Dieser Widerspruch wird psychologisch so gelöst, dass auch Jugendliche als konsensfähige „Frauen“ wahrgenommen werden.

            – Ausgerechnet die Sexkäufer, die den folgenden Aussagen zugestimmt haben: “prostitutes are dirty, but men need them for sexual relief” oder “prostitution is quick, easy and satisfying, like buying fast food when you are really hungry” haben mit höherer Wahrscheinlichkeit ein Interesse für minderjährige Prostituierte geäußert als jene Sexkäufer, die der folgenden Aussage zugestimmt haben: „prostitutes are skilled and professional love-makers who should be given more respect“

            Quellen:

            1) https://prostitutionresearch.com/wp-content/uploads/2022/11/Freier-Germany-11-8-22.pdf

            2) https://prostitutionresearch.com/wp-content/uploads/2015/09/Comparing-Sex-Buyers-With-Men-Who-Do-Not-Buy-Sex.pdf

            3) https://publications.iom.int/system/files/pdf/mrs_15_2003.pdf

            Die Basics, Teil 4

              In Teil 2 haben wir darüber gesprochen, wie Sprache Debatten verzerren kann. Als Beispiel haben wir die Begriffe „Zuhälter“ und „Bordellbetreibender“ gegenübergestellt. Hier nochmal zur Erinnerung:

              Als „Bordellbetreibenden“ kann ich mir den freundlichen Nachbarn Peter vorstellen, der mehr oder weniger selbstständigen Frauen Räumlichkeiten bietet, damit diese ihrer Tätigkeit nachgehen können. Wenn ich über Missstände nachdenke, frage ich mich, ob Peter die Räumlichkeiten in Ordnung hält und vielleicht ab und zu auch mit den Frauen spricht.

              Denke ich an den „Zuhälter“ Peter, habe ich ein ganz anderes Bild. Der „Zuhälter“ Peter heißt wahrscheinlich gar nicht Peter, das ist nur ein Pseudonym. Von diesem Peter erwarte ich unechten Charme, um Frauen um den Finger zu wickeln, und dann Gewaltbereitschaft, um sie gefügig zu halten, sobald sie einmal für ihn arbeiten. Emotionale Kälte, sich jederzeit zu „nehmen was ihm gehört“. Wenn ich über Missstände nachdenke, denke ich an Ausbeutung, an Manipulation und Gewalt und Vergewaltigung, an Menschenhandel, Zwangsprostitution und an Minderjährige, denen Peter sagt, sie sollen behaupten sie seien 18. Außer bei manchen Kunden, denen sie ihr wahres Alter ruhig verraten dürfen – da sagt er dann vorher Bescheid.

              Wenden wir uns dieser Rolle in der Prostitution also einmal zu. Wenn man eigene gewaltvolle Erfahrungen mit der Spezies Zuhälter und Bordellbetreiber hat, ist es nicht leicht ist zu verstehen, wieso es Debatten über Bordellbetreibende überhaupt gibt, wieso diese Menschen ganz offen mit Politik und Verwaltung sprechen. Und so aktiv daran mitwirken, wie man am besten mit Prostitution umzugehen hat (Beispiel-Quelle: 1). Jetzt werden einige sagen – Moment, es besteht doch ein Unterschied zwischen einem Zuhälter, der Frauen aus dem Menschenhandel zwangsprostituiert, und einem Inhaber eines Bordells, der einfach nur Räumlichkeiten an Frauen vermietet.

              Ja, natürlich gibt Unterschiede, das Milieu ist nicht homogen und in drei Sätzen beschreibbar.Aber wie bitte rechtfertigt man, dass ein Dritter an der Prostitution anderer Menschen Geld (viel Geld!) verdient?

              Selbst wenn man davon ausgehen würde, dass eine selbstbestimmte Prostitution möglich wäre, müsste man dann doch erst recht mit allen Mitteln dagegen kämpfen, dass Dritte diese Selbstbestimmung wieder einschränken.

              Also, machen wir uns auf die Suche nach einer Rechtfertigung – irgendeiner halbwegs haltbaren Rechtfertigung für diesen „Job“. Die erste Frage wäre, was dieser Job überhaupt sein soll.

              Es gibt Menschen, die sagen, Bordellbetreibende / Zuhälter seien zum Schutz der Prostituierten da. Es gibt sogar Studien, dass Prostituierte mit Zuhältern weniger Gewalt ausgesetzt seien als ohne. Hier gibt es aber zwei Probleme:

              1) Wie schon im letzten Post angerissen, ist es verbreiteter Teil der Rotlicht-Kultur, dass Prostituierte mehr oder weniger als Eigentum der Zuhälter/Bordellbetreibenden gesehen werden und Gewalt durch diese entsprechend oft nicht als solche erkannt und benannt wird.

              2) Unter Quelle 2 findet ihr ein Video, in welchem (ehemalige) Bordellbetreibende selbst zu Wort kommen. Und siehe da: Es wird völlig selbstverständlich erklärt, man müsse den Frauen vormachen, man würde sie lieben und eine Beziehung mit ihnen führen (ab Minute 47:07). Andi („Karate Andi“), der nicht mehr im Milieu tätig ist, gibt zu: er sei damals „brutal“ gewesen. Und er zeigt sich „bis heute“ verwundert darüber, dass die Frauen dies toleriert hätten. Jeder, der sich ein wenig damit auskennt, was Trauma mit Menschen macht, teilt diese Verwunderung sicher nicht.

              Das sind öffentliche Statements, gemütlich in freundlicher Runde, mit unzensiertem, teils grinsenden Gesicht in der Kamera.

              Frauen manipulieren und „brutal“ sein passt natürlich so gar nicht zu der Annahme, Zuhälter/Bordellbetreibende seien zum Schutz der Frauen da.

              Also suchen wir weiter. Eine weitere, insbesondere seit dem Prostituiertenschutzgesetz verbreitete Idee ist: Bordellbetreibende vermieten vielleicht nur Räumlichkeiten an eigentlich selbstständige Frauen. Ein Beispiel eines solchen Betreibers findet ihr in Quelle 3.

              Er bezeichnet sich selbst als Vermieter, betont wie sauber, freiwillig und legal alles ablaufe – auch wenn er zugibt, die Frauen machen das oft aus Armut heraus. Und: Die Frauen seien alle selbstständig. Im Laufe des Videos wird eine Sexarbeiterin nach den Preisen befragt. Sie nimmt 50€ für 20min, 80€ für 30min und 150€ für 60min. Wie viel muss sie für das Zimmer bezahlen? 135€.

              Hier ein Rechenbeispiel: Angenommen, alle Freier buchen 20min und sie möchte mindestens 100€ mit nach Hause nehmen. Hätte sie keinen „Vermieter“, wären das also 2 Freier und 40min. Jetzt muss sie allerdings 135€ Tagesmiete bezahlen, also mit 3 weiteren Freiern schlafen. Anstatt 40min, 2 Freier und 100% von 100€ zu haben, muss sie 100min lang 5 Freier bedienen und hat am Ende weniger als 50% der verdienten 250€, nämlich nur 115€.

              Mehr als die Hälfte des Geldes abgeben und mit mehr als doppelt so vielen Freiern schlafen zu müssen – ist das selbstständig? Entspricht das dem, was man gemeinhin unter „Vermieter“ versteht?

              Was bleibt noch übrig?

              Man kann der Argumentation der Pro-Sexwork-Bubble folgen: Prostitution sei ein ganz normaler Job. Vielleicht kommt man darüber auf die Schlussfolgerung, dass ein ganz normaler Job auch einen ganz normalen Vorgesetzten rechtfertigt.

              Nun, wie bei jedem „normalen“ Job hat man natürlich Tage, bei denen man keine Lust hat auf seinen Job. Keine Lust auf seine Kunden. Und natürlich gibt es Kunden, die man besonders wenig mag. Das gibt sogar die Pro-Sexwork-Bubble zu: „Depending on what you do, your day-to-day work might be taxing in one or more ways. It might be physically hard on your body or emotionally draining. It might be annoying or enraging or exhausting or scary at times. […] Heather took to journaling after bad sessions with clients, whether it was because she felt off her game or because the clients, well, sucked. “Writing helps me recontextualize some fucked up shit as something that could be cathartic or entertaining,” she says.“ (4)

              “some fucked up shit“ klingt so gar nicht harmlos. Erst recht nicht, wenn man sich vor Augen führt, worüber wir sprechen: Menschen, die Sex mit anderen Menschen erdulden, um ihren Kühlschrank zu füllen. Und ggf. natürlich den Kühlschrank ihres Zuhälters oder Bordellbetreibenden.

              Und falls das auch noch nicht gereicht hat: Das Prostituiertenschutzgesetz bestimmt, dass ein Bordellbetreibender rechtlich betrachtet kein Weisungsrecht gegenüber einer angestellten Prostituierten haben darf (§26 ProstSchG).

              Also haben wir einen Beschützer, der „brutal“ ist, einen Vermieter, der mehr als die Hälfte des verdienten Geldes einbehält, oder einen Manager, der formal gesehen eigentlich nicht managen darf.

              Selbst wenn man eine völlig blauäugige, alle-haben-sich-lieb Ponyhof-Vorstellung von Prostitution hat, muss man doch zugeben, dass das keinen Sinn ergibt.

              Wir haben bislang 4 Quellen angegeben, davon geben 2 Brodellbetreibenden eine Stimme und eine weitere stammt ausder Pro-Sexwork-Bubble.

              Menschenhandel, sexuelle Ausbeutung von Kindern/Jugendlichen in der Prostitution und erschreckend junge Einstiegsalter von Prostituierten auch in Deutschland, Prostitution als Folge von sexueller Gewalt in der Kindheit, Loverboys und andere Konstellationen:Alles Beispiele, die tagtäglich in Deutschland passieren und die ohne Einwirkung Dritter doch gar nicht möglich sind. Trotzdem ist die gesamte Argumentation ohne diese Beispiele ausgekommen, aus einem ganz einfachen Grund: Es gibt keine Rechtfertigung hierfür: Ein Mensch bezahlt für die temporäre Hoheit über den Körper eines anderen Menschen, und dann kommt jemand anderes hinzu und meint, daran mitverdienen zu dürfen.

              Übrigens, nicht alles, was in der Kamera glänzt, ist aus Gold: Unten verlinken wir euch zum Abschluss einen Artikel über die Verurteilung von Rudloff, unter Anderem wegen „Beihilfe zum schweren Menschenhandel“. Rudloff ist eine Zeit lang ebenfalls durch die Medien gehüpft ist und hat am sauberen Image von Prostitution und Bordellbetrieb gearbeitet (5).

              Quellen:

              1) https://www.berlin.de/ba-tempelhof-schoeneberg/politik-und-verwaltung/runder-tisch-sexarbeit/staendige-mitglieder-774695.php?fbclid=IwAR0bbNfDmkRhhWHJnRJlv6qghILJADEF_EoaRJq1_A1vqCRO6DIzAgLE8wA
              2) https://www.youtube.com/watch?v=XQErWAkfCT4
              3) https://www.youtube.com/watch?v=XVM9t6HwNC8
              4) https://www.self.com/story/sex-worker-self-care-kit
              5) https://www.frauenrechte.de/unsere-arbeit/themen/frauenhandel/aktuelles/3701-angeblicher-saubermann-der-prostitution-verurteilt?fbclid=IwAR3nPSeJFNEvcgu07bxVRMXsfWPLXY-jh_T6DMtPSWvXKe7BroAjfs27N24

              Die Basics Teil 3

                Ursprünglich sollte dieser Text einen Überblick geben über die internationalen Abkommen und Menschenrechtskonventionen, die für Prostitution relevant sind. Aber um das Verhältnis von Menschenrechten und Prostitution zu verstehen, braucht es keine seitenlangen Abhandlungen. Denn es gibt da diesen einen Satz:

                Ein einzelner, kurzer Satz, der das exakte Gegenteil von Prostitution beschreibt. Und der reicht aus.

                Er beschreibt das Gegenteil davon, wenn einem nachts im Winter der Zuhälter die Jacke abnimmt. Davon, sich im Anschluss für 40€ gegen eine vereiste Mauer ficken zu lassen, um Essen auf den Tisch zu bekommen. Im Wissen, dass von diesen 40€ keine 40€ für Essen übrig bleiben.

                Das Gegenteil davon, von der Gnade des „Bordellbetreibenden“ abhängig zu sein für jede Mahlzeit, jeden Arztbesuch. Weil man die Landessprache nicht spricht, die Gesetzeslage nicht kennt – womöglich nicht mal weiß, wo genau man sich befindet. Die Kunden scheinen es komischerweise nicht zu hinterfragen, wenn die „Sexarbeiterin“ sie kaum versteht oder nur auf Englisch kommuniziert.

                Wenn sich Zuhälter „ihre“ Frauen nehmen, wann immer sie Lust dazu haben, wird das im Milieu meist nicht als Vergewaltigung gewertet. Sind ja schließlich „seine Frauen“.

                Auch wenn es keinen Zuhälter gibt, bestimmt der Kunde über den Körper der Prostituierten. Hier ein Zitat von Freier Christian aus Stuttgart: „Man kann mit der Frau machen, was man will.“ (1) Der Kunde ist König. Manchmal auch Könige – denn wer sagt, dass Freier immer alleine kommen?

                Prostitution bedeutet, die Hoheit über den eigenen Körper gegen Geld zu tauschen. Kein Wunder, dass die PTBS-Raten so hoch sind (2,3).

                Es gibt da diesen einen Satz. Ein einzelner, kurzer Satz, der das exakte Gegenteil von Prostitution beschreibt:Jede Person hat das Recht auf Freiheit und Sicherheit.

                Artikel 5 der Europäischen Menschenrechtskonvention.

                Quellen:

                1) https://www.bettinaflitner.de/portfolio-1/freier-johns

                2) Cumulative Violence and PTSD Symptom Severity Among Urban Street-Based Female Sex Workers: https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/31679445/

                3) Prevalence of suicidality, depression, post-traumatic stress disorder, and anxiety among female sex workers: a systematic review and meta-analysis:https://link.springer.com/article/10.1007/s00737-021-01144-1

                Die Basics, Teil 2

                  Sprache ist etwas Merkwürdiges. Sie hilft uns, Dinge klar zu benennen, Konzepte abzugrenzen und eine gemeinsame Diskussionsbasis zu finden. Richtig eingesetzt, kann sie Brücken schlagen selbst zwischen den abgelegensten, voneinander entferntesten Positionen.

                  Aber sie kann auch das Gegenteil erreichen. Wenn Sprache zu reinen rhetorischen Kampfmitteln verkümmert und Argumente vorrangig dazu aufgeführt werden, um inhaltsleere Worte anstelle der eigentlichen Debatte mit Bedeutung zu füllen. Ad absurdum geführt wird es dann, wenn wir uns nur noch unterschiedliche Begrifflichkeiten entgegenschreien – die eine ruft „Es heißt Bordellbetreibende!“ die andere „Das sind aber Zuhälter!“.

                  Als „Bordellbetreibenden“ kann ich mir den freundlichen Nachbarn Peter vorstellen, der mehr oder weniger selbstständigen Frauen Räumlichkeiten bietet, damit diese ihrer Tätigkeit nachgehen können. Wenn ich über Missstände nachdenke, frage ich mich, ob Peter die Räumlichkeiten in Ordnung hält und vielleicht ab und zu auch mit den Frauen spricht.

                  Denke ich an den „Zuhälter“ Peter, habe ich ein ganz anderes Bild. Der „Zuhälter“ Peter heißt wahrscheinlich gar nicht Peter, das ist nur ein Pseudonym. Von diesem Peter erwarte ich unechten Charme, um Frauen um den Finger zu wickeln, und dann Gewaltbereitschaft, um sie gefügig zu halten, sobald sie einmal für ihn arbeiten. Emotionale Kälte, sich jederzeit zu „nehmen was ihm gehört“. Wenn ich über Missstände nachdenke, denke ich an Ausbeutung, an Manipulation und Gewalt und Vergewaltigung, an Menschenhandel, Zwangsprostitution und an Minderjährige, denen Peter sagt, sie sollen behaupten sie seien 18. Außer bei manchen Kunden, denen sie ihr wahres Alter ruhig verraten dürfen – da sagt er dann vorher Bescheid.

                  Der „Bordellbetreibende“ Peter ist der freundliche Nachbar, der „Zuhälter“ Peter ein grausamer Krimineller.

                  An dieser Stelle schlürfen wir metaphorisch oder tatsächlich an unserem warmen Kaffee und atmen durch. Bevor wir uns in den nachfolgenden Teilen der Basics-Reihe mit inhaltlichen Argumenten auseinandersetzen, führen wir uns vor Augen, worüber wir überhaupt sprechen. So sprach-neutral wie möglich.

                  Was passiert in der Prostitution, ganz allgemein gesprochen?

                  Mindestens ein Mensch bezahlt dafür, mindestens eine sexuelle Handlung an mindestens einem weiteren Menschen vorzunehmen und/oder diese von diesem Menschen einzufordern. Manchmal wird das Geld direkt an die betroffene Person gezahlt und bleibt auch bei dieser Person, manchmal nimmt eine dritte Person Teile oder das gesamte Geld in Anspruch.

                  Für jetzt belassen wir es bei dieser nüchternen Formulierung und schließen mit einigen Fragen ab:

                  – Welche Menschenrechte spielen hier eine Rolle?

                  – Was glaubst du selbst: Wieso bezahlt jemand für sexuelle Handlungen? Wieso lässt sich jemand bezahlen? Was motiviert dritte Personen, sich zu beteiligen?

                  – Oben haben wir das Thema „Missstände“ ins Spiel gebracht. Wenn man sich diese nüchterne Formulierung anschaut, was Prostitution ist: Welche Missstände können vorherrschen? Wo können Grenzen überschritten werden, wo kann Gewalt ins Spiel kommen?

                  – Was müsste umgekehrt gegeben sein, damit Prostitution für dich in Ordnung ist? Kannst du dir „gute“ Szenarien vorstellen und wenn ja, welche?

                  – Wenn du (falls vorhanden) diese möglichen guten Szenarien mit den möglichen Missständen vergleichst, welche Gedanken und Emotionen löst das aus?

                  Natürlich haben wir einen eigenen festen Standpunkt, wie wir diese Fragen beantworten. Ab dem nächsten Mal gehen wir daher auf unsere Argumente näher ein. Bis dahin bleibt Zeit zum Durchatmen, zum Reflektieren der eigenen Position und zum Bewusstmachen, was Worte in uns auslösen.

                  Habt eine gute Woche!

                  Die Basics, Teil 1

                    Jeder Mensch kennt es wahrscheinlich, wenn man im Chaos des Alltags das Wesentliche aus den Augen verliert. Wenn man sich über Dinge aufregt, die eigentlich gar nicht wichtig sind, oder in Streitereien gerät, bei denen keiner der Seiten mehr weiß, worum es überhaupt geht. Oder, die Trauma-Variante: Wenn man vergisst, was man schon alles geschafft hat und dass die Bilder und Gedanken im eigenen Kopf eigentlich zur Vergangenheit gehören.

                    Im Alltag ist das menschlich und normal. Mit Routinen, Self-Care-Momenten oder einem warmen Kaffee am Morgen kann man versuchen, zur Ruhe zu kommen und wieder klarer zu sehen.

                    In politischen Diskussionen passiert dasselbe, gerade in der heutigen algorithmen-gesteuerten und klick-finanzierten Zeit. Anstatt sich mit der Sache auseinanderzusetzen, wird der Konflikt über persönliche Attacken und Metadiskussionen auf Nebenschauplätze verschoben.

                    Für alle, die neu auf uns gestoßen sind, und alle, die vielleicht dabei sind, sich in solchen Nebenschauplätzen zu verlieren, möchten wir uns in den nächsten Wochen regelmäßig die Zeit nehmen, um in Ruhe zu rekapitulieren: Wer sind wir, wofür kämpfen wir, warum und wie sind wir zu unserer politischen Position gekommen?

                    Fangen wir vorne an, nämlich bei der Frage, wer wir sind.

                    Wir sind Frauen aus der Prostitution. Jede von uns hat ihre eigene Geschichte und die konkreten Erfahrungen sind breit gestreut – Orte, Zeiträume, Arten der Prostitution variieren alle. Aber egal ob „Edel-Escort“ oder Straßenstrich, ob ausländisch oder deutsch, wir haben alle in der Prostitution Gewalt, Demütigung und Ausbeutung erlebt. Wir sprechen nicht von den „Schattenseiten der Prostitution“. Prostitution ist Schatten. Eine Dunkelheit, die dich in sich reinzieht und versucht, dich nicht mehr loszulassen.

                    Wir wissen, wovon wir sprechen. Und deswegen kämpfen wir dafür, dass in Zukunft keine Frau und kein Mädchen mehr ein Preisschild an sich trägt.

                    Schöner Schein für Einschaltquoten

                      Autorin: Jara Anouk //

                      Der Text einer anderen Ella hat mich dazu inspiriert oder besser ermutigt, mich mit der Verantwortung der Medien in Bezug auf Reportagen über das Rotlichtmilieu zu beschäftigen beziehungsweise zu äußern. Ich selbst war eine Akteurin in mehreren Reportagen mit verschiedenem Inhalt, aber in der Tat jedes Mal mit der Botschaft: „Alles ist freiwillig, alles ist Zucker, ein ganz normaler Job, mit dem sich gutes Geld verdienen und ein tolles Leben führen lässt.“ Fakt aber ist: Es war alles Fake. Anhand einer Reportage mit mir als Domina – als solche habe ich tatsächlich damals begonnen -, an dieser Stelle ein Beispiel zur Verdeutlichung: Gedreht wurde in einem Studio, das ich nicht kannte, mit einem Sklaven, der zuvor noch nie bei mir gewesen war. Darum gekümmert hatte sich die Fernsehproduktionsfirma. Immer gefragt in solchen Reportagen: Ein privater/persönlicher Einblick ins Leben einer Protagonistin. Ich gebe zu, um jenen habe ich mich bemüht, allerdings war der Produktionsfirma klar, dass jener private Einblick in mein Leben nur Show ist. Gedreht wurde in einer Wohnung, in der ich nicht lebte, mit einem Hund, der nicht meiner war und einer besten Freundin, die ebenfalls aus dem Milieu stammte, die ich allerdings kaum kannte. Die Realität, mein echtes Leben sah damals allerdings so aus: Ich reiste jede Woche in eine andere Stadt und lebte in den Appartements, in denen ich auch arbeitete. Eine eigene Wohnung hatte ich nicht mehr. Längst schon arbeitete ich nicht mehr ausschließlich als Domina, sondern als Prostituierte, Camgirl, Stripperin, Pornodarstellerin und auf Pornopartys. Feiertage wie Weihnachten, Ostern oder Geburtstage gab es nicht, geschweige denn Freizeit. Ich hatte 24/7 für die Gäste erreichbar zu sein.

                      Das in der Reportage verkörperte Bild der starken, selbstbewussten und freien Sexarbeiterin mit Freunden, Geld und Freizeitspaß war eben auch ganz genau nur das: ein Bild, eine Fiktion, ein Schauspiel. 

                      Jener Bericht einer Ella hat mir nun einmal mehr deutlich vor Augen geführt, was derart positive und weichgespülte Darstellungen in Medien bei Frauen und Mädchen auslösen können. Es berührt und beschämt mich, dass ich womöglich dazu beigetragen habe, ein vollkommen verklärtes Bild der Prostitution zu vermitteln. Umso mehr bewegt es mich nun dazu, deutlich klarzustellen, dass das Gezeigte Schein ist und nichts mit der harten Wirklichkeit im Milieu zu tun hat. Zumindest war das bei mir der Fall und mit Sicherheit bin ich kein Einzelfall. Warum ich da mitgespielt habe? Weil ich für meinen Loverboy/Zuhälter alles tun sollte/musste, was irgendwie Geld einbringt und in gewisser Weise zu Bekanntheit führt, folglich zu mehr Gästen und dementsprechend zu noch mehr Geld. Nicht für mich, sondern für sein Leben in saus und braus. Warum ich das mitgemacht habe? Erst aus Liebe, dann aus Angst.

                      Die gemachte Erfahrung bewegt mich heute allerdings auch dazu, zu hinterfragen, was solche Reportagen überhaupt mit Journalismus zu tun haben? In meinen Augen und nach meiner Auffassung überhaupt nichts. Zumindest wenn man davon ausgeht, dass Journalisten Dingen und Sachverhalten auf den Grund gehen und die Wahrheit herausfinden und darstellen sollen. Doch im sogenannten Trash-TV geht es nicht um Wahrheiten, sondern um Einschaltquoten. Auch Menschen und deren Schicksale spielen keine Rolle. Recherchen dazu, wie es wirklich ist, im Milieu zu arbeiten, sich mit Protagonisten dahingehend auseinanderzusetzen – Fehlanzeige. Ich behaupte sogar beziehungsweise habe selbst erlebt, dass der Gegenteil der Fall ist. Da werden Geschichten konstruiert und gezeigt, die sich ein Redakteur zurechtgelegt hat, weil es den Einschaltquoten dienlich ist. Da wird das Milieu und die Sexarbeit verharmlost, ohne darüber nachzudenken, was das für Folgen nach sich zieht und wem man da womöglich eine Bühne gibt.

                      Daher richte ich einen eindringlichen Appell an alle Medienschaffenden – vom Sender über Produzenten bis hin zu jedem einzelnen Redakteur, Kameramann und Tonassistenten, der für die Realisation verantwortlich ist: Stellt euch eurer Verantwortung. Geht in euch und stellt euch die Frage, warum ihr einst Journalisten geworden seid! Ich verweise an dieser Stelle auf den Ethik-Kodex des DFJV (1), wenngleich mir auch bewusst ist, das nicht jeder Medienschaffende dort Mitglied ist. Dennoch sollten meiner Meinung nach Redakteure – egal für welches Format sie arbeiten, – an der Wahrheitsfindung und realistischer Darstellung interessiert sein. Sind sie das nicht, sollten sie auf Drehbuchautor umschulen. Denn ich will es hier noch einmal in aller Deutlichkeit sagen: Diese angeblich wahren Reportagen über das Milieu sind nichts anderes als Serien nach Drehbuch. Das Fatale ist allerdings, das sie unter dem Deckmantel einer Reportage gezeigt werden und dementsprechend suggerieren, das das, was gezeigt wird, das wahre Leben der Frauen in der Prostitution ist.

                      Ganz klar schließe ich mich dem an, was eine Ella vor mir bereits geschrieben hat: Wir brauchen keine Reportagen, Bücher und dergleichen, die das Milieu beschönigen und Sexarbeit als lukrativen Job mit Aufstiegschancen hinstellen. Was wir brauchen, sind Medienschaffende, die klar und deutlich NEIN zum Realisieren solcher geschönten Reportagen sagen und sich klar vom Milieu distanzieren, statt Showbühnen zu schaffen.   

                      (1) https://www.dfjv.de/ueber-uns/ethik-kodex