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Der massenhafte Einzelfall

    Autorin: Ronja //

    Seit ich mich für das Nordische Modell engagiere und damit weit mehr Einzelschicksale in der Prostitution als sogar während meiner aktiven Zeit mitbekommen habe, verblüffen und verstören mich einige der Parallelen zwischen uns (Ex-)Betroffenen immer wieder und immer mehr.

    Und ihre Instrumentalisierung ebenso.

    Die pro-Prostitutions-Lobby grenzt sich natürlich ab von Menschenhandel und Zwangsprostitution. Denn natürlich möchte das niemand unterstützen oder gar anpreisen und zumindest ein Teil der Freier legt ja sogar Wert auf die Illusion der Freiwilligkeit. Doch diese Unterscheidung in „Menschenhandelsopfer“ und „die frohe, freiwillige Hure“ – die ist schwierig.

    Wo beginnt denn Menschenhandel und Zwang? Nein, nicht erst bei einem abgenommenen Pass nach einer illegalen und gewalttätigen Verschleppung an den Ort, an dem eine Frau zur Prostitution gezwungen wird.

    Er liegt vor, wenn eine Frau von Bekannten oder gar Verwandten unter falschen Job-Versprechungen nach Deutschland „eingeladen“ wird, nur um dann vor der „Wahl“ Bordell oder Obdach- und Mittellosigkeit zu stehen, weil der Putzjob im Hotel gar nicht existiert.

    Er liegt vor, wenn der (vermeintliche) Partner eine Frau dazu nötigt und ihr einredet, sie müsste für beide auf diese Art Geld verdienen, denn die Beziehung hätte ihn bis dahin schon genug „gekostet“ und nun wäre es einmal an ihr, sich zu „revanchieren“.

    Er liegt vor, wenn Frau sich aus Verzweiflung auf erste Treffen gegen Geld aber noch ab vom Milieu einlässt und der souverän wirkende Freier vorschlägt, dass er ihr Connections verschaffen könne – natürlich gegen Anteil.

    Er liegt schlicht vor, wenn eine dritte Partei durch die Ausbeutung der Frau, egal in welcher Form und in welchem Beziehungsgefüge (siehe auch Leihmutterschaft gegen Geld) profitiert.

    So viel zum Menschenhandel.

    Und Zwang trifft noch viel öfter zu.

    Zwang, weil Frau aus dem sozialen Netz gefallen ist.

    Oder ihre psychische Gesundheit keinen anderen Weg erkennen lässt und Hilfsangebote erst gar nicht bei ihr ankommen.

    Weil irgendwas oder irgendwer ihren Selbstwert und ihr Männerbild schon so nachhaltig beschädigt hat, dass sie sich tatsächlich zwanghaft prostituiert um die Abwertung ihrer Selbst oder (teilweise auch gleichzeitig) die vermeintliche Aufwertung, weil Freier für ihren Körper bezahlen, als einzige zwischenmenschliche Konstante sieht, die sie in ihrem Leben aufrechterhalten kann.

    Zwang, weil Menschen ihr „einmal Hure, immer Hure“ sagen.

    Das klingt immer noch sehr abstrakt. Und vor allem so weit weg von den „Selbstbestimmten“.

    Aber das ist es nicht.

    Nicht nur jemand, der sowieso schon eine schlechte „Sozialprognose“ (schrecklicher Begriff, aber des Verständnisses halber verwende ich ihn) hatte und hat, fällt durch das Netz der Sozialleistungen.
    Abgelehnte Anträge, weil eine Unterschrift der Eltern bei unter 25-Jährigen nicht beizubringen ist (z.B. weil eine junge Frau ihr gewalttätiges Elternhaus fluchtartig verlassen musste und jeder weitere Kontakt gefährlich wäre), abgelehnte Bildungsmaßnahmen, weil irgendeine verbürokratisierte Voraussetzung nicht im Lebenslauf erfüllt wurde, Scham, aus der man sich nicht ofW (ohne festen Wohnsitz) melden will und ergo versucht, sich ganz ohne Sozialleistungen, von Amtswegen getragene Krankenversicherungsbeiträge und der Aussicht, mit dieser Zäsur im Lebenslauf je wieder eine eigene Wohnung zu finden, durchzuschlagen.

    DAS passierte und passiert vielen der sogenannten „Selbstbestimmten“.

    Und nein, wir sind auch nicht zu doof um Anträge zu stellen.

    Es erstaunt mich auch immer wieder, wie viele von uns insbesondere nach dem Ausstieg aber teilweise auch noch während der aktiven Zeit, aktiv versuchen, Bildungsaufsteigerinnen zu werden.

    Der zweite Bildungsweg und die Hörsäle sind voll von Frauen wie uns.

    Aber diese Türen waren uns dereinst aus genannten Gründen verschlossen und sie bleiben es leider für noch viel mehr Frauen in der Prostitution, die z.B. keine Ausbildung oder alternative Zulassungsvoraussetzungen zum zweiten Bildungsweg nachweisen können.

    Auch aus diesen Gründen. Wer durch das Netz fällt, hat meistens andere Dinge zu retten als den ermüdenden und verhassten Schriftverkehr mit Ämtern.

    Nur warum sind wir als massenhafte Einzelfälle dort gelandet?

    Auch das ist ein Punkt der Parallelen, der von der pro-Lobby gern negiert wird.
    Gewalterfahrung wird als Einzelfall gestempelt und es heißt, so eine Frau sollte sich diesen „Beruf“ eben nicht aussuchen.

    Und dennoch bilden wir das Gros der Frauen, die dort gelandet sind.

    Denn es muss nicht einmal sexualisierte Gewalt sein, die einer Frau widerfahren ist. Wobei auch schon der Anteil an denen, auf die das zutrifft, erschüttert hoch ist und die Statements der Lobby wie gewalttätigen Hohn an sich erscheinen lassen.

    Aber selbst wenn diese schlimmste Gewalt in Kindheit und/oder Jugend nicht erfahren werden musste, eint uns doch meist trotzdem eine Historie der Gewalt. Physisch und/oder psychisch in Form von Abwertungen und Vernachlässigung.

    Und DAS trifft nun wirklich auf mindestens 90% der Frauen zu, mit denen ich selbst seit über einem Jahrzehnt in Kontakt gekommen bin.

    Als ich mich selbst noch prostituiert habe, glaubte ich sogar, dass ich mit dieser falschen, gekauften und damit missbräuchlichen „Zuneigung“ und „Wertschätzung“ etwas, das mir widerfahren ist, kompensieren könnte.

    Ein prominenter Selbstbetrug im Milieu.

    Ich prangere mit diesem Text also die Instrumentalisierung von uns Aktivistinnen durch eine Schwarz-Weiß-Denke an.

    Menschenhandel versus Selbstbestimmtheit.

    Alternativlosigkeit versus Selbstbestimmtheit.

    Gewaltfolge versus Selbstbestimmtheit.

    Es gibt keine Trennlinie zwischen diesen Dingen und einer vermeintlichen Selbstbestimmtheit. Tatsächlich verhöhnt eine derartige Trennlinie die Lebensrealität so vieler Prostituierter, die sich in einem oder mehreren dieser Punkte irgendwo im Bereich dazwischen sehen. Damit können sie sich nicht mit der pro-Lobby identifizieren aber wissen auch sonst nicht wohin mit ihrer Identität, die im Diskurs kaum ein Ohr findet, weil es nur um diese Extreme zu gehen scheint.

    Das Netzwerk Ella bietet genau dieses Ohr. Und Support.

    Und wir nehmen uns einander an, ganz egal, wo auf dem „Schieberegler“ zwischen  diesen Extreme unsere eigene Geschichte verortet ist.

    Trotzdem erstaunt und erschüttert es mich immer wieder, dass selbst die meisten „Selbstbestimmten“ eben nicht auf der einen extremen Seite stehen, sondern doch irgendwo von diesen Dingen, die es doch eigentlich nicht geben dürfte unter den „frei gewählt dort Gelandeten“ betroffen waren.

    Schlussendlich eint uns aber vor allem eines, und das ist die Erkenntnis, dass nur das Nordische Modell andere Frauen davor bewahrt, sich prostituieren zu müssen und ein gesamtgesellschaftliches Umdenken in Hinsicht auf Geschlechterrollen und der Rolle der Prostitution darin zu erwirken.

    Von Menschenhandel betroffen, durch soziale Netze gefallen, Gewalt erlebt…

    Patriarchat verinnerlicht, der Geschlechterrolle ergeben, Selbstbetrug.

    Jede individuelle Geschichte einer Prostituierten ist ein massenhafter Einzelfall.

    Nordisches Modell, jetzt!

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