Autorin: © Pani K. – Netzwerk Ella – Mai 2021
Alle wissen, was eine Vergewaltigung ist.
Der Gesetzgeber sagt dazu: “(1) Ein besonders schwerer Fall liegt in der Regel vor, wenn der Täter mit dem Opfer den Beischlaf vollzieht oder vollziehen lässt oder ähnliche sexuelle Handlungen an dem Opfer vornimmt oder von ihm vornehmen lässt, die dieses besonders erniedrigen, insbesondere wenn sie mit einem Eindringen in den Körper verbunden sind (Vergewaltigung)…” (2)
Das ist ein entscheidender Faktor: Eindringen in den Körper.
Was genau kommt hier in Betracht? Mund, Vagina, Anus, Harnröhre. Womit in den Körper eingedrungen wird, scheint zweitrangig – Finger, Faust, Penis, Dildo, Dilatator, Flasche – alles ist verwendbar.
Damit wäre die objektive oder sachliche Ebene geklärt.
Aber: Wie ist es mit der subjektiven Ebene?
Was bedeutet Vergewaltigung für die Opfer – wie erleben und überleben sie das, was ihnen angetan wird und wurde?
Ich kann nicht für andere sprechen – nur für mich. Und das will ich hier tun – subjektiv und persönlich. Denn eine Vergewaltigung ist immer persönlich – verdammt persönlich.
Zuerst Fakten: Ich wurde mehr als dreihundert Mal vergewaltigt. “Mehr als” kommt daher, dass ich bei 300 aufgehört habe zu zählen. Ich könnte schätzen, aber mir wird dabei so übel, dass ich es lieber sein lasse.
Der ersten versuchten Vergewaltigung mit etwa 14 Jahren konnte ich entkommen. Die erste vollendete Vergewaltigung erfuhr ich mit 16 Jahren und wurde schwanger, danach hatte man mich der Schule verwiesen und zu einer Abtreibung gezwungen. In beiden Fällen waren Täter männliche Bekannte. Danach waren es meistens männliche Unbekannte, einmal eine Freundin.
Ich war nun ein “gefallenes Mädchen” und damit wertlos. Das tat sehr weh und war so schwer zu ertragen, dass es mir Jahre später besser schien, einen Preis zu haben, als so wertlos zu leben…
Manchmal waren Messer oder Waffen dabei, meistens jedoch körperliche Einwirkung. Ich konnte kaum nein sagen und habe mich nur einmal gewehrt. Widerstand wurde mir schon lange vorher herausgeprügelt. Selbstverteidigung bedeutete in meinem Leben nur noch mehr Gewalt, größeren Schmerz, akute Lebensgefahr und eskalierende Wut der Täter. Das habe ich bereits als Kind gelernt und so habe ich später versucht zu überleben. Oft denke ich, es war einfach nur Zufall, das es geklappt hat…
Erleben: Eine Vergewaltigung bedeutet für mich Ohnmacht und Todesangst.
Ein anderer Mensch verfügt über meinen Körper, ergreift die Macht über meine intimen Stellen, wütet in meinem Innersten – es ist wie ein Erdbeben von innen. Ich bin in meinem Körper nicht sicher, bin schutzlos ausgeliefert, muss alles ertragen, verschlucke mich an meiner Stimme und verstumme – es ist wie ertrinken im Schmerz. Es gibt kein Versteck, keinen Fluchtweg, keine Rettung.
Die einzige Möglichkeit diesem Grauen zu entkommen ist “abschalten” – man flüchtet aus sich selbst. Es ist wie sterben, der Körper wird schlaff und leblos, die Wahrnehmung wird heruntergefahren oder ganz ausgesetzt. Die Seele verlässt das gepeinigte Fleisch, das Bewusstsein spaltet sich ab und das Licht geht aus – im wörtlichen Sinne. Man ist wie tot, minuten- bis stundenlang.
Eine Nahtoderfahrung ist für viele Menschen nicht nur ein Trauma, sondern eine einzigartige Zäsur in ihrem Leben. Danach ist man ein anderer Mensch und oft wird es ein anderes Leben. Nichts ist mehr so, wie es davor war, nichts ist selbstverständlich.
Nach mehr als dreihundert Nahtoderfahrungen durch Vergewaltigung kann ich sagen – ich weiß nicht, ob ich lebe und ob ich noch ein Mensch bin. Die Verbindung zu meinem Körper ist sehr fragil. Die Verbindung zu anderen Menschen – kaum möglich und instabil. Ich fühle mich oft tot und wundere mich darüber, dass mein Körper sich bewegt und etwas spürt. Lebendig tot – so nenne ich das.
Überleben: Oft denke ich, es wäre besser nicht zu überleben.
Überleben bedeutet – sich erinnern müssen, an das Unerträgliche. Überleben bedeutet – mit dem Schmerz leben müssen, der im Körper gespeichert bleibt. Überleben bedeutet – die Angst aushalten müssen, dass Gewalt wieder angetan wird. Und Schuld – dafür, dass man überlebt hat und die anderen nicht.
All die Anderen, die neben mir vergewaltigt wurden, die geweint und sich gewehrt hatten, die bewusstlos wurden, die nie wieder zurück kamen. Sie hätten es verdient zu überleben, sie hätten dieses Glück haben sollen – aber sie hatten Pech. Ich hatte Glück, aber ich bin nicht glücklich darüber, es ist eine Bürde und eine Qual. Ich fühle mich schuldig – weil ich noch da bin. Ich schäme mich, dass ich mich nicht mal an die Namen der anderen Frauen erinnern kann, ich würde ihrer gerne gedenken – aber selbst das kann ich nicht…
Und dann noch der banale Alltag. Frauenarzt, Zahnarzt, Friseur, Handwerker – solche und viele andere Herausforderungen belasten das Leben danach und lösen Panik und Krisen aus. Ich fühle mich nie sicher, wenn Menschen in der Nähe sind…
Ich merke manchmal die Hilflosigkeit der Helfer – es ist für sie schwer zu ertragen, dass man nicht wirklich helfen kann. Dabei ist Respekt vor dem Schmerz auch eine Hilfe, oft die einzig mögliche. Behutsam sein – das hilft.
Eine einzige Vergewaltigung kann ausreichen, um einen Menschen für immer zu brechen. Man ist für sein Leben gezeichnet, das kann man den Überlebenden ansehen – tief in ihren Augen ist sie sichtbar – die Spur der Gewalt.
Nach mehr als dreihundert Vergewaltigungen bin ich in mehr als dreihundert Scherben zerbrochen, es ist mühsam, sie stets zusammenzuhalten und klappt nicht immer gut. Ich bin mehrfach gezeichnet, bin versehrt.
Narben, Risse, Scherben – das bin ich und das wird nie wieder ganz und heil. Die Zeit heilt nicht alle Wunden – damit muss man leben. Leben lernen bleibt für mich die größte Herausforderung…
Noch ein Aspekt: Geld ist ebenfalls ein Teil des Problems.
Eine Vergewaltigung bleibt Gewalt – gratis genauso wie bezahlt. Täglich vergewaltigt zu werden ist Folter – kein Geld der Welt kann das ändern. Das Entgelt ist ein Knebel für mich und ein Persilschein für die Freier – sie werden damit reingewaschen, während mein “Nein!” damit weggewischt und in meiner Kehle erstickt wird.
Ich wollte kein Sex mit den Freiern, sondern Geld – Geld für den Zuhälter, den Vermittler, den Puffbetreiber, den Hotelbesitzer, den Polizisten, den Grenzbeamten, den Vermieter, den Arzt… Und für meine Familie. Ich wollte, dass meine Schwester das niemals ertragen muss, was ich ertrug. Und auch keine andere Frau sonst. Und ich wollte, dass auch ich es nicht mehr ertragen muss – nie wieder. Aber ich konnte mir ein “Nein!” nicht leisten…
Eine bezahlte Vergewaltigung ist keine “sexuelle Dienstleistung”. Tägliche Vergewaltigung ist keine Arbeit. Und Einnahmen daraus – kein Lohn. Ich kann das beurteilen, ich kenne mich damit sehr gut aus – denn ich habe es mit und ohne Geld ertragen müssen, täglich über Wochen, Monate und Jahre…
Opfer: Ja, die Gewaltopfer sollen nicht auf ihre Opfer-Rolle reduziert werden. Klingt gut, ist jedoch nur die halbe Wahrheit.
Mein Problem ist nicht, dass ich auf die Opfer-Rolle reduziert werde. Mein Problem ist, dass ich nicht als Gewaltopfer anerkannt werde. Denn ich habe nie eine Anzeige erstattet, es gab keine Zeugen oder sie leben nicht mehr, die Täter sind unbekannt, die Erinnerung ist durch das Trauma abgespalten, fragmentarisch und immer noch qualvoll – das reicht, um nicht als Opfer zu gelten und keine Hilfe oder Entschädigung zu bekommen. Gewalt wird keine und Unrecht wird zum Recht – so will es das Gesetz (2). Die aktuelle Gesetzgebung ist ein Teil des Problems, statt ein Teil der Lösung zu sein.
“Die Würde des Menschen ist unantastbar” – das gilt nicht für mich. Für mich gibt es keine Gerechtigkeit. Das zu erfahren und zu ertragen ist entwürdigend. Die systemische Gewalt ist fast noch schmerzhafter als Gewalt durch Täter – sie kommt so sauber und selbstgerecht daher, ist gesichtslos und übermächtig…
Ich höre manchmal: Sexuelle Freiheit ist ein hohes Gut und ein Menschenrecht.
Und ich sage: Sexuelle Freiheit ist keine Freiheit zum Vergewaltigen.
Kein Freier darf diese Freiheit haben, sich ein “Ja!” zu kaufen.
Kein Freier darf das Recht haben, sich von seinem Verbrechen freizukaufen.
Kein Schwanz ist es wert, dass Frauen dafür leiden müssen oder zerstört werden.
Kein Geld der Welt kann Gewalt aufwiegen oder umdefinieren.
Solange Freier gegen Geld vergewaltigen dürfen, ist keine Frau oder Mädchen sicher und gleichwertig.
Solange man den Zugang zum Körper eines Menschen legal kaufen kann, ist jeder Mensch ein Handelsobjekt.
Es betrifft uns alle – jeden Tag – und es ist verdammt persönlich!
Fußnoten:
(1) Strafgesetzbuch (StGB), § 177 Sexueller Übergriff; sexuelle Nötigung; Vergewaltigung
(2) Gesetz über die Entschädigung für Opfer von Gewalttaten