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Über das wichtige Gespräch mit Betroffenen/Aussteigerinnen/Überlebenden und warum wir trotzdem oft nicht sprechen (können)…

    Autorin: Ronja //

    Oft gibt es bei Veranstaltungen oder Texten von unseren großartigen Mitstreitenden für das Nordische Modell Fragen, manchmal gar Beschwerden à la: „Wenn Prostitution angeblich für viele Betroffene so schlimm ist, wieso sprechen/schreiben hier nur Menschen, die nie in der Prostitution waren? Daraus kann ja nur folgen, dass das NM gar nicht im Interesse der eigentlichen Menschen in der Prostitution wäre!“

    Ich bin diese Haltung, die uns manchmal gar in Rechtfertigungszwang drücken will, so leid!
    Daher mal ein paar Worte dazu:
    Wir im Netzwerk Ella bemühen uns nach Kräften, über unsere Erfahrungen und Forderungen zu schreiben. Manchmal geben wir auch schriftliche Interviews. Einige von uns zeigen sogar auf Veranstaltungen oder für filmische Produktionen ihr Gesicht.

    ABER wir brauchen unsere engagierten und mutigen Mitstreiterinnen, die uns auch dann eine Stimme geben, wenn wir sie nicht haben können oder wollen.

    Denn viele Frauen, denen der Ausstieg gelingt, wollen all das aus guten Gründen hinter sich lassen. Manche haben inzwischen Familie und einen Beruf, weswegen sie sich erstens nicht öffentlich outen wollen/können und zweitens gar keine Zeit und Nerven für Aktivismus haben.

    Und wo ich beim Thema Nerven bin: der Großteil von uns leidet an Traumafolgestörungen. Entweder durch Erfahrungen in der Prostitution und/oder weil viele von uns schon durch eine Vortraumatisierung überhaupt erst in die Prostitution geraten sind oder sich vermeintlich freiwillig dafür entschieden haben.
    Ich gehöre zu den Wenigen von uns, die überhaupt auch Gesicht zeigen können und mache das seit gut 1,5 Jahren regelmäßig. Mit der Folge, dass mir nach jeder größeren Veranstaltung mindestens 1,5 Tage lang die Nerven blank liegen, selbst, wenn die Veranstaltung wohlgesonnen war.
    Wenn ich aktuell keine Vollzeitstudentin mit gesicherter Studienfinanzierung wäre, die es sich erlauben kann, hin und wieder 1,5 Akku-Auflade-Tage unter der Bettdecke zu verbringen, könnte ich auch nicht öffentlich für Netzwerk Ella sprechen. Und es kam auch schon vor, dass ich mich in Folge solcher Dinge von meinem Glücksgriff von Psychiaterin für 2-5 Tage hab krankschreiben lassen müssen.

    Wir mussten jahrelang wenigstens überleben, mussten jahrelang psychische und physische unmenschliche Belastungen ertragen. Logisch, dass wir heute oftmals nicht die Kraft haben, uns zu dem Thema ständig zu streiten, vor allem nicht mit Menschen, die uns unsere Erfahrungen absprechen wollen oder gar Täter-Opfer-Umkehr betreiben, weil diejenigen, die sich als Opfer von Prostitution verstehen, ja irgendwo selbst doof gewesen sein müssen, weil sie es nicht zur häppy selbstbestimmten Sexwörkerin gebracht haben. Nein!
    (übrigens gehörte ich ja zu den „Freiwilligen und Selbstbestimmten“, hatte nie Zuhälter oder andere äußere Zwänge, die viele Frauen im Netzwerk Ella außerdem aus Angst abhalten, sich nach außen wie innen wieder und wieder damit auseinandersetzen zu müssen… dennoch ist es für mich heute so schwer, nachdem ich aufarbeite, wieso ich überhaupt in die Prostitution und für viele Jahre in die Schiene ihrer Verteidigung abgerutscht bin und heute die psychischen und physischen Folgen betrauern muss)

    Aus all diesen Gründen können wir nicht auf jedem Podium zum Thema sitzen, können nicht ständig vor Fremden über schlimme Erfahrungen reden, können nicht springen, wenn irgendwo wieder eine social media Diskussion eskaliert und die NM-Gegner hämisch ins Feld führen, dass sich mal wieder keine Betroffene zu Wort meldet.

    Wir als Netzwerk Ella sind vor allem auch dafür da, dass wir intern arbeiten. Das heißt, dass wir uns untereinander (be)stärken, auffangen, diskutieren, Wege aufzeigen, Spenden sammeln, wenn sie nötig sind damit eine von uns eine schwierige Lebenslage übersteht ohne nur aus diesem Druck heraus wieder in die Prostitution gehen zu müssen.
    Darüber hinaus versuchen wir auf social media und bei Medienanfragen politisch zu wirken, weil wir wissen, dass nur das Nordische Modell den gesellschaftlichen Wandel bringen kann, der irgendwann einmal Mädchen und Frauen vor dem bewahren kann, was uns allen über Jahre widerfahren ist.
    Und nein, da rede ich nicht von Menschenhandel und Zwangsprostitution allein, denn auch die Lobby ist ja logischerweise gegen diese Dinge und sie sind eh gesetzeswidrig.
    Aber die männliche Anspruchsdenke hinsichtlich „käuflichem Sex“ macht den illegalen Markt in seinen Dimensionen erst nötig und attraktiv und hat ALLE von uns geschädigt.

    Deshalb wollen wir laut sein für das Nordische Modell, na klar, aber oftmals versagt die Stimme oder die Nerven oder wir können eben kein Gesicht zeigen.

    Bitte habt das im Hinterkopf! Immer, wenn euch etwas begegnet à la: „Wenn Prostitution angeblich für viele Betroffene so schlimm ist, wieso sprechen/schreiben hier nur Menschen, die nie in der Prostitution waren? Daraus kann ja nur folgen, dass das NM gar nicht im Interesse der eigentlichen Menschen in der Prostitution wäre!“

    Und supportet uns, auch wenn wir manchmal still sind/sein müssen.
    Und diejenigen, die uns in solchen Situationen eine Stimme geben, weil sie es dank persönlichem Abstand können aber trotzdem die Empathie aufbringen, die uns Wind unter den Flügeln ist! ❤

    (c) Ronja

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